Das verletzte Gesicht
ein Geschäftsbesuch.
Sie folgte Michael um die Hausecke und sah einen großen, sehr dünnen jungen Mann mit breitkrempigem Hut im Schatten einer Zypresse ein Taschenbuch lesen. Michael rief ihn, als sie auf ihn zugingen. Er blickte auf, winkte kurz und steckte das Buch ein. Im Näherkommen bemerkte Charlotte, dass seine Haut wesentlich heller war als Michaels und eine gräuliche, ungesunde Farbe aufwies. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, doch sein Lächeln war warm und offen.
„Das ist mein Bruder, Bobby Mondragon“, stellte Michael ihn vor und fügte an ihn gewandt hinzu: „Unsere neue Kundin, Charlotte Godfrey.“
Sie begrüßten sich mit Handschlag. Charlotte fiel auf, wie erstaunlich weich Bobbys Hand war für jemand, der Gartenarbeit verrichtete. „Ah ja, Miss Godfrey“, sagte er in einem Ton, der andeutete, dass er bereits eine Menge über sie gehört hatte. Er warf seinem Bruder einen viel sagenden Blick zu. „Ist mir ein Vergnügen.“
Charlotte antwortete mit einer Floskel und fragte sich, ob die beiden auf der Fahrt über sie gesprochen hatten. Michaels leichtes Stirnrunzeln bestätigte ihren Verdacht.
„Helfen Sie auch bei der Anlage von Gärten?“ fragte sie Bobby.
„Himmel, nein, das überlasse ich Michael. Ich nutze gewöhnlich das, was die Nonnen mein angeborenes Talent nannten, und werfe Farbe auf die Wände verlassener Gebäude in der Stadt.“
„Hören Sie nicht auf ihn. Er ist ziemlich stolz darauf, Wandmaler zu sein.“ Michael sah seinen Bruder liebevoll an. „Und ich bin stolz, sagen zu können, er ist einer der Besten. Die Parkkommission hat ihn beauftragt, in diesem Sommer zwei neue Gebäude in der Stadt zu bemalen.“
„Was für Bilder malen Sie?“
„Keine Kakteen oder Kojoten“, scherzte er. „Ich stehe nur eine Stufe höher als Graffitti-Künstler.“
Michael schüttelte lachend den Kopf. „Wir sollten uns an die Arbeit machen.“
In der nächsten halben Stunde gingen Michael und Bobby das Grundstück ab, nahmen Maß, besprachen, wo Schatten spendende Bäume stehen sollten, wo der beste Platz für zukünftige Blumenrabatten war und wie man Sichtschutz zur Straße herstellte. Charlotte spürte Michaels Begeisterung, etwas Neues zu entwerfen. Bobby hingegen wirkte gelangweilt.
Später arbeitete Michael allein weiter. Er machte sich Notizen über die Sonneneinstrahlung, nahm Bodenproben und verschaffte sich einen Eindruck, wie das Haus auf dem Grundstück stand. Von einer Anhöhe aus blickte er auf das Anwesen: ein wenig schroffer Fels, ein Grasplateau und darüber der weite blaue Himmel. Das kleine, trotzig am Hang klebende Haus regte seine Fantasie an. Die Landschaft ringsum interessierte ihn nur im Hinblick darauf, wie er das Gebäude erweitern könnte.
Ihm fehlte die architektonische Arbeit an Gebäuden. Zement, Mörtel, Holz und Fliesen, das waren seine Werkstoffe. Doch sein Vater hatte nicht locker gelassen. Nun, nach inzwischen zwei Jahren hier, fühlte er sich immer mehr ins Familienunternehmen integriert. Sein Vater hatte ihm ein weiteres Jahr abgeluchst. „Baue dir ein Haus hier“, hatte er gedrängt. „Heirate, ziehe hübsche kleine Mexikaner auf.“ Er sah zu Charlotte, die Bobby half, ein Stück Garten auszumessen. Gelegentlich hatte der Gedanke, in Kalifornien zu bleiben, etwas Verlockendes.
Er blickte wieder zum Haus und entschied, dass er seinem Vater noch diese Saison gab, dann war Schluss. Er musste nach Chicago in das Architekturbüro zurück, dem er seinen rasanten Aufstieg verdankte.
Charlotte sah von ihrem Maßband auf und entdeckte Michael allein auf der Anhöhe. Wie er dastand, die Hände auf den Hüften, das Haar im Wind wehend, schien er Teil der Landschaft zu sein. „Er muss seinen Beruf sehr lieben“, sagte sie zu Bobby.
Der folgte ihrer Blickrichtung und lächelte ironisch. „Seinen Beruf? Allerdings, den liebt er sehr. Ein Jammer.“
Charlotte sah ihn verständnislos an.
Bobby rollte das Maßband auf und steckte den Schreibstift ein. „Hier sind wir fertig. Gehen wir hinüber zu dem verlorenen Sohn. Mal sehen, was er plant. Hallo!“ rief er, und über ihnen kreischten Möwen eine Antwort.
„Sie haben ein fürchterliches Haus und ein wunderschönes Grundstück“, stellte Michael fest, als sie zu ihm kamen. „Aus dem Haus könnten Sie eine Menge machen.“
Charlotte betrachtete das rechteckige Gebäude voller Skepsis. „Ich kann leider gar nichts daraus machen“, korrigierte sie in. „Es gehört nicht mir,
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