Das verletzte Gesicht
Entsetzte.“
Melanie zog sich beleidigt zurück. „Das tue ich ja. Nur weil du es anders machen würdest, heißt das nicht, dass ich es falsch mache.“
Charlotte seufzte und fürchtete das Schlimmste. Melanies Voreingenommenheit beschädigte ihre Urteilskraft, und sie konnte nichts dagegen tun.
„Aufnahme!“ rief George.
Zu spät. Jetzt kam es auf Melanie an. Sie begab sich bereits auf ihre Position und schwang die Hüften wie Mae West. Ihre Unbelehrbarkeit beschleunigte ihren Untergang. Es war schwer, tatenlos dabei zu stehen und das mitzuerleben. Aber Melanie hätte jeden weiteren Ratschlag als belehrend oder herablassend abgelehnt. Charlotte erkannte ihre Machtlosigkeit, wandte den Blick ab und konzentrierte sich auf ihre Rolle. Während der Maskenbildner ihr den Schweiß abtupfte und den Lidstrich reparierte, ging sie mit geschlossenen Augen in sich und verwandelte sich allmählich in das Hausmädchen Laura.
Als sie die Augen aufschlug, dachte sie nicht mehr an Melanie. Techniker und Assistenten, Hunderte starrender Augen, triviale Kommentare, das alles verschwand aus ihrer Wahrnehmung. Wie zu einer inneren Musik ging sie auf ihre Position in der Mitte des College-Platzes und blickte gelassen zu den efeubewachsenen Wänden aus dem achtzehnten Jahrhundert, die sie umgaben. Die Pferdekutschen, die langen Kleider, die Krawatten, die Spazierstöcke und die zahllosen anderen historischen Details halfen zusätzlich, sich in die Laura jener Zeit zu verwandeln.
Laura betrat die Szene. Sie verließ eilig das College, um aus der Stadt zu fliehen. Ihr Liebhaber war besessen und suchte nach ihr. Sie bangte um ihr Leben.
Stille senkte sich über den Drehort, die Kameras begannen zu surren. Und da war ihr Liebhaber, Charles, gut aussehend, vertraut und doch mit Wahnsinn im Blick. Er zog eine Waffe, sie schrie. Er schoss, und Laura fiel zu Boden. Sie unterdrückte einen Schmerzlaut, als sie wieder auf denselben Stein aufschlug wie vorhin. Reglos lag sie da, während ringsum Aufruhr entstand. Plötzlich hörte sie George gequält aufschreien: „Idiotin!“
Am Abend konnte Charlotte Melanie nicht finden, weder im Restaurant des Hotels, das die Filmgesellschaft für die Dreharbeiten belegt hatte, noch in ihrem Zimmer, noch in der Halle oder an anderen Orten, die Schauspieler und Mannschaft frequentierten. Es war bereits neun, und es gab in einer kleinen College-Stadt wie dieser mit engen Straßen und kleinen, früh schließenden Geschäften kein Lokal mehr, in das man gehen konnte.
Charlotte war besorgt. Eine innere Stimme drängte sie, nach ihrer Freundin zu suchen. George hatte Melanie völlig entnervt aus dem Team geworfen. Freddy war auf dem Weg von L.A. hierher, um die Scherben zu kitten, und sie wollte mit Melanie sprechen, ehe Freddy ihr den Marsch blies. Was Melanie jetzt brauchte, war eine Freundin und keinen wütenden Agenten.
Sie suchte weiter in dem alten Hotel, das schon bessere Tage gesehen hatte. Verunsichert durchwanderte sie die Räumlichkeiten mit den abblätternden Tapeten und fadenscheinigen Teppichen. Ein schaler Geruch wie nach altem Bier hing in der Luft. Eilig nahm sie die kleinen Räume mit Süßigkeiten und Eisautomaten in Augenschein. Fehlanzeige. Sie gelangte in einen heruntergewirtschafteten Saal mit dunkler Täfelung und Neonreklamen für verschiedene Biersorten. Die Filmcrew spielte hier Poolbillard oder Poker oder langweilte sich beim Trinken.
„Hat jemand Melanie Ward gesehen?“
Es gab ein paar sexistische Bemerkungen darüber, dass jeder Melanie irgendwann schon mal gesehen habe. Jemand durchbrach immerhin das anzügliche Lachen und erklärte, er habe sie Richtung Strand gehen sehen. Charlotte fröstelte in düsterer Vorahnung und eilte davon.
Von der hinteren Hotelveranda führten ein paar morsche Holzstufen zum Strand hinunter. Daran schloss sich ein düsterer, nach verwesendem Fisch stinkender Sandstreifen an, übersät mit Seetang und zerbrochenen Muscheln. Die Salzluft stach ihr in die Wangen und peitschte durch ihren dünnen Pullover. Frierend schlang sie die Arme um sich und starrte suchend in die Dunkelheit. Sterne glitzerten am klaren Himmel und spiegelten sich im Ozean wie Diamanten.
Charlotte blickte nach rechts und links, niemand weit und breit. Sie stieg die Stufen hinab und ging über den dunklen, verlassenen Strand. Nach etlichen Schritten glaubte sie in der Ferne eine Bewegung zu erkennen, eher einen Schatten. Sie kniff die Augen leicht zusammen und entdeckte
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