Das verletzte Gesicht
die beißende Kälte den Mantelkragen hoch. Eine Kaltfront zog heran und verlieh dem Wind Schärfe. Das Wetter hier in Maine erinnerte ihn an Chicago. Er hatte ganz vergessen, wie kalt Wind sein konnte. Er wollte schon zum Hotel zurückkehren, als er aus der Ferne einen Schrei hörte. Er sah sich um, doch der Strand wirkte verlassen. Er blieb stehen und wartete ab. Ein weiterer gellender Schrei, er schien aus dem Wasser zu kommen. Michael lief los.
Kurz vor dem Wellensaum entdeckte er zwei Gestalten nicht allzu weit draußen. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass es Frauen waren. Sie schienen miteinander zu kämpfen. Er wusste, dass Ertrinkende in ihrer Panik oft genug ihre Lebensretter mit in die Tiefe rissen. Genau das schien hier zu passieren. Er lief weiter. Etwas an dieser Frau kam ihm bekannt vor …
Als er das Wasser erreichte, schlug sein Herz vor Angst im Hals. „Charlotte!“ rief er.
Mein Gott, nein!
Er riss sich Schuhe und Jackett herunter und sprang ins Wasser. Mit kräftigen Kraulzügen näherte er sich den Frauen. Es blieb nicht viel Zeit. Er griff nach Charlotte und entriss sie Melanies schlagenden Armen.
„Melanie, nein!“ rief sie schwach und spuckte Wasser. „Ich bin okay. Halte sie auf … halte …“
Auch Melanie hustete jetzt, die Augen entsetzt geweitet.
Plötzlich verstand Michael. „Schwimm zum Strand zurück!“ rief er Charlotte zu. „Sofort!“ befahl er streng, da sie zögerte.
Um ihn nicht zu behindern und kaum in der Lage, den Kopf weiter über Wasser zu halten, gehorchte sie und schwamm mit tauben Gliedern durch die eisigen Wogen, die ihr die letzte Lebenskraft aus dem Körper sogen.
Michael griff nach Melanie. Als sie ihn schwächer werdend abwehren wollte, versetzte er ihr einen Kinnhaken. Dann zog er den schlaffen Körper an Nacken und Schultern Richtung Strand. Im Flachwasser ließ er sie los und übergab sie Charlottes wartenden Armen.
Melanie kam zu sich, rappelte sich hoch und taumelte aus dem Wasser auf den Strand, wo sie auf die Knie sank. Ein Bild des Jammers. Keiner sprach. Das Entsetzen über die Beinah-Katastrophe machte sie sprachlos.
Michael zog Charlotte in die Arme, die vor Kälte und Schock unkontrolliert zitterte. Als er sich klar machte, dass er sie fast verloren hätte, war er einer Ohnmacht nahe. Es war unvorstellbar für ihn, ohne sie leben zu müssen. Sie bedeutete ihm alles.
„Du bist da“, sagte Charlotte immer wieder verwundert.
„Ich bin immer für dich da“, flüsterte er und presste sie liebevoll tröstend an sich. „Immer.“
„Warum habt ihr mich nicht in Ruhe gelassen?“ stöhnte Melanie neben ihnen. Auch sie zitterte heftig vor Kälte.
Charlotte löste sich von Michael und schlang Melanie einen Arm um die schmalen Schultern. Sie wirkte so klein, fast kindlich. „Ich lasse nicht zu, dass du dein Leben so wegwirfst“, sagte sie mitfühlend. „Nicht für einen Film, Mel. Es gibt so vieles, wofür sich zu leben lohnt, auch für dich.“
„Was denn? Ich habe nichts, wofür ich leben könnte.“ Sie schwankte und verzog weinerlich das Gesicht. „Ich bin ganz allein.“
„Du hast alles, was du brauchst. Ich mag dich, Mel, ich bin deine Freundin. Und ich bin für dich da.“
Melanie schluchzte und wischte sich schroff mit den Händen das Gesicht. Dann richtete sie sich auf, stieß Michaels helfende Hand zurück und wankte ein paar Schritte wie eine Betrunkene. Mascara lief ihr über das Gesicht, und das Haar klebte ihr an der Stirn.
Michael und Charlotte sahen besorgt, wie sie schwankend stehen blieb und nicht wusste, wohin sie sich wenden sollte.
„Ich schäme mich so“, sagte sie mit hoher Stimme. Als sie in Tränen ausbrach, geschah es nicht in Hysterie, sondern als Ausdruck tiefen Kummers. Ihr heftiges Zittern wurde zu einem Mitleid erregenden Zucken der Schultern.
Charlotte ging zu ihr und legte noch einmal den Arm um sie. „Lass uns hineingehen, damit du dich aufwärmen kannst. Da lässt sich auch besser reden.“
Sie sah zu Michael, der in der Dunkelheit abwartete, was er tun, wie er helfen könnte. Sie liebte ihn mehr denn je für sein Mitgefühl.
Ihre Blicke begegneten sich, und er verstand ohne viele Worte, was zu tun war. Er nickte kurz, sammelte die Schuhe ein, legte Melanie sein Jackett um die Schultern und nahm ihren Arm, während sie den Rückweg zum Hotel antraten. Gemeinsam brachten sie Melanie, vorbei an neugierigen Blicken und unsensiblen Kommentaren über verrückte Filmleute, die um diese
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