Das Verlies der Stuerme
Fall – es war nichts weiter als ein Schatten, etwas, das nie von der Sonne berührt wurde.
Nur mit Mühe erkannte Ben Beine, die an die einer Krabbe erinnerten, mindestens elf Stück. Ferner Zangen wie die eines Kellerkäfers und zwei mehrere Schritt lange, wurmartige Fortsätze über den Augen, da wo Insekten
Fühler hatten oder Ziegen Hörner. Der fischige Gestank war stärker geworden, doch die Haut der Kreatur fühlte sich trocken und rau an, und fast überall hart wie die Rinde einer Goldesche. Der Kopf wirkte wie der einer Schlange, doch Ben konnte keinen Hals erkennen, und er konnte weder sehen noch sich vorstellen, wie der Kopf in den Körper überging. Auch konnte er sich nicht erinnern, wie dieses Wesen im Leben ausgesehen hatte, obwohl es doch vor ihm lag. Obwohl es ihn gestern noch angegriffen hatte. Ben sah in ihm nur eine willkürliche Ansammlung undurchdringlicher Dunkelheit.
»Was zur Buckelkuh ist das?«, fragte er, doch Anula und Aiphyron schüttelten nur die Köpfe.
»Soll ich es ins Licht zerren?«, fragte der Drache.
»Nein«, sagte Ben hastig. Eigentlich wollte er nicht wissen, wie es aussah, er wollte es nur möglichst schnell vergessen. Anula packte seine Hand und drückte sie.
»Und was machen wir jetzt?«
»Ich leg dir noch mal die Hände auf, und dann schauen wir, wie wir hier herauskommen. Wer weiß, ob es davon noch mehr gibt.« Daran hatte er zum Glück in der Nacht nicht gedacht. »Eine solche Begegnung langt fürs Leben.«
»Dann lass uns gleich verschwinden. Ich bin so weit wieder hergestellt, dass ich da hochkraxeln kann.« Aiphyron wandte sich dem Schacht zu, presste die Beine rechts und links gegen die Wand und kletterte mühsam hinaus. Er fluchte und keuchte, schaffte es aber, ohne abzustürzen. Dann zog er Anula und Ben nacheinander an der Liane hinauf.
Bens Hände und Rücken schmerzten noch immer, ebenso das Knie, wenn er es durchdrückte. Doch als er Aiphyron die Hände in der warmen Sonne auf das Auge legte, als er
seine Heilkräfte durch die Fingerspitzen rinnen spürte, als er fühlte, wie der Schmerz von dem Drachen genommen wurde, da fühlte er sich glücklich. Als er mit Yanko nach Schätzen getaucht hatte und wenn er allein war mit Anula, das waren ebenso Momente des Glücks, und doch waren sie etwas anderes. In diesem Moment spürte er deutlich, wie sehr er das Heilen vermisst hatte. Das war es, was er machen wollte, was in ihm steckte, was ihn ausmachte. Seine Gabe, sein Wesen.
Er war glücklich, und zugleich hätte er fast heulen können vor Wut, wenn er die verletzten Flügel sah. Mit aller Wucht riefen sie ihm all die verstümmelten Drachen in Erinnerung, die er im Großtirdischen Reich gesehen hatte. Die sie eigentlich alle hatten befreien wollen, auch wenn sie ihren Schwur damals erst einmal nur auf einen einzigen Drachen beschränkt hatten, auf Marmaran.
Ursprünglich hatten sie für die versklavten Drachen und die Wahrheit kämpfen wollen, bis dann der Orden sie gejagt hatte, bis sie gesehen hatten, wie hoch das Kopfgeld war, das auf sie ausgesetzt war, bis die Angst gekommen war und sie vor der Übermacht geflohen waren.
Wie sollten sie sich einem ganzen Land entgegenstellen? Allein?
Aber wozu verfügte er über seine Gabe, wenn er nach Schätzen, Muscheln und einem Schiffbrüchigen suchte, dessen Flaschenpost er nicht einmal lesen konnte? Und der nun bestimmt tot war, verschlungen von der Dunkelheit unter dem Schacht, die von Aiphyron besiegt worden war. Einem Drachen, der sein Leben für Ben riskiert hatte, während Ben davonrannte, anstatt weitere Drachen zu befreien.
Natürlich war der Orden mächtig und in tausendfacher
Überzahl, aber im Augenblick schämte sich Ben für seine Feigheit.
Als er Aiphyron gefragt hatte, ob er an Schicksal glaube, hatte dieser gesagt, Ben solle einfach nur tun, was er für richtig halte. Ob dazu auch gehörte, sich gegen den Willen eines Gottes zu stellen, das wusste er nicht. Ein Gott war immerhin … nun ja, eben ein Gott.
Doch darum ging es hier schließlich auch nicht – es ging um verlogene Priester und einen Orden, der sich auf den Sonnengott Hellwah berief, wie auch auf alte Legenden über einen Fluch Samoths, des Gottes der Tiefe. Ein Fluch, der angeblich in den Flügeln der Drachen steckte und sie in wilde, überwiegend Jungfrauen verschlingende Bestien verwandelte.
Diese Legenden waren Lügen, das wusste Ben. Weshalb sollten die Priester und Ritter also ansonsten die Wahrheit sagen, wenn sie vom
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