Das Verlies der Stuerme
Willen Hellwahs sprachen? Gegen solche Priester würde sich Ben mit Vergnügen stellen; sie waren durch und durch Menschen, keine Götter.
Beinahe zärtlich strich Ben über Aiphyrons geschundene Schwingen. Er wollte nicht mehr zulassen, dass der Orden anderen Drachen die Flügel abschlug und ihnen damit den Willen zur Freiheit und die Fähigkeit zu sprechen nahm. Sie auf diese Weise in gefügige Geschöpfe verwandelte, in gehorsame Reittiere oder bessere Wachhunde. Wenn er an die flügellosen Drachen in den Stallungen des Klosters mit den zwölf Zinnoberzinnen dachte, wurde er schwermütig und zornig. Es war so falsch, was der Orden tat und predigte, sie durften das nicht einfach so hinnehmen. Sie kannten die Wahrheit, nur sie konnten sie erzählen. Und nur Ben konnte den Drachen ihre Flügel wiedergeben.
»Wie geht’s euch?«, unterbrach Yanko seine Gedanken. Zusammen mit Nica trat er eben aus dem Wald, brachte Wasser und frische Früchte.
»Hm«, brummte Aiphyron, es klang sehr zufrieden.
»Besser«, sagte Ben und nahm das Wasser. Egal, wie viel er trank, sein Mund war noch immer ausgetrocknet.
»Was meinst du, was das da unten war? Das Ding, das dich angegriffen hat?«
»Ich weiß nicht. Es war einfach nur dunkel und unförmig und … Noch nie habe ich von so einer Kreatur gehört.«
»Meinst du, es war ein Geschöpf Samoths?«
»Ich weiß nicht, kann sein.« Ben atmete tief durch und nahm noch einen Schluck Wasser. »Es ist tot, das ist alles, was mich interessiert.«
»Und jetzt?«
»Jetzt fliegen wir heim. Und machen endlich da weiter, wo wir vor Monaten aufgehört haben. Wir befreien Drachen und machen dem Orden das Leben schwer.«
»Hm«, brummte Aiphyron und klang noch ein Stück zufriedener als vorhin.
»Und der Schiffbrüchige?«, fragte Yanko. »Meinst du, das Blut im Schacht stammt von ihm?«
Ben nickte. »Oder zumindest von irgendeinem Schiffbrüchigen, der hier gestrandet ist. Wir können nicht alle Inseln der Welt absuchen, ob irgendwo noch ein anderer steckt, der vielleicht diese dämliche Flaschenpost geschrieben hat, die kein Mensch lesen kann. Wir müssen uns um Drachen kümmern. Und um den verdammten Orden!«
»Meinetwegen.« Yanko zuckte mit den Schultern und deutete dann grinsend zum Schacht hinüber. »Hier ist es ja auch nicht unbedingt sicherer als daheim.«
Ben lachte, aber nur kurz.
»Nein, es ist nicht wie daheim«, widersprach Anula. »Solange wir nicht einfach in das nächstbeste Loch steigen, das in Samoths Reich hinabführt, ist uns in den letzten Monaten nichts passiert. Im Großtirdischen Reich dagegen werden wir gejagt, und zwar von beinahe jedem. Wir sind Geächtete, hast du das vergessen? Und in den Augen aller Kopfgeldjäger noch harmlose Kinder. Alle halten uns für leicht verdientes Geld, alle werden hinter uns her sein. Alle!« Anulas Stimme war mit jedem Satz lauter geworden. In ihren Augen spiegelte sich die blanke Angst, sie hatte viel mehr Zeit in Gefangenschaft verbracht als Ben, Yanko oder Nica.
»Anula.« Ben wollte sie in den Arm nehmen, aber sie stieß ihn weg.
»Nein, nichts da mit Anula. Spar dir dein Säuseln, ich komm da nicht mit!«
»Bitte, Anula.«
»Nein!« Sie sprang auf und stürmte davon.
»Anula!« Ben rannte ihr hinterher. Was sollte das? Davonlaufen, das war doch nicht ihre Art. War die Angst so groß?
Doch auch jetzt war sie nicht weit geflohen, Ben musste nur ein kurzes Stück weit in den Wald hinein, da stand sie und wartete auf ihn. Zwei Schritt von ihr entfernt blieb er stehen und sah sie an.
»Ich will nicht vor den anderen reden«, sagte sie und zog die Nase hoch. Aber sie weinte nicht. »Ich will nicht, dass sie wissen, wie viel Angst ich habe. Dass sie mich für einen Feigling halten.«
»Niemand hält dich für einen Feigling. Du warst gestern schneller unten als Yanko oder Nica.«
»Nun ja.« Anula atmete schwer. »Das war was anderes. Da hab ich nicht nachgedacht.«
»Ja, Mut ist einfacher, wenn man nicht nachdenkt.« Er ging einen Schritt auf sie zu.
»Dann müsstest du ja der mutigste Mensch der Welt sein!« Anula verschränkte die Arme. »Erst steigst du in dieses vermaledeite Loch, und anstatt froh über deine glückliche Rettung zu sein, willst du gleich ins nächste steigen! Das ganze Großtirdische Reich ist nur ein riesiges dunkles Loch!«
»Ich …«
»Ja, du!«, schrie sie, weil sie sonst nichts mehr zu sagen wusste.
»Verstehst du nicht, dass ich zurückmuss? Dass meine Gabe …«
»Deine Gabe,
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