Das Verlies der Stuerme
Dann müsste er seine Tochter nicht verkaufen.« Er erzählte ihr von den merkwürdigen Heiratssitten in Rhaconia. »Wenn er nicht so verschuldet wäre, müsste er nicht das höchste Angebot annehmen und könnte Mircah vielleicht sogar mitwählen lassen.«
Anula nickte und verzichtete darauf, Ben eifersüchtig zu fragen, ob er ausgewählt werden wollte. Im Gegenteil, zum ersten Mal zeigte sie Mitleid mit der Händlertochter. Und sie bedankte sich für den Schmuck, als hätte sie ihn wirklich bekommen.
In der Nacht flogen sie nach Rhaconia und kreuz und quer über die Stadt hinweg. Dabei warfen sie ein Schriftstück nach dem anderen in die Straßen und möglichst viele Hinterhöfe hinab. In den Höfen würden sie nicht so schnell von Nachtwächtern oder Rittern gefunden.
»Wir sollten sie Flugpergamente nennen«, sagte Ben und starrte ihnen hinterher, wie sie wie Herbstblätter in die Tiefe taumelten. »Weil wir sie im Flug abwerfen.«
»Flugschriften«, sagte Anula. »Pergamente ist viel zu lang.«
»Abgemacht.«
Anschließend kreisten sie noch zweimal über dem Kloster und leerten die letzten Bekanntmachungen und eine Handvoll Steckbriefe aus ihren Taschen.
Dann ließ sich Ben am äußeren Ende der Mole absetzen und huschte auf ihr in den Hafen und weiter zu Fintas Lagerhaus. Dort holte er so viel Pergament, wie er tragen konnte, und eine Flasche Wein. Mit der Beute unterm Arm eilte er zurück zu seinen wartenden Freunden, und sie kehrten gemeinsam heim.
Vilette hatte aufgehört, permanent ihre nicht vorhandene Jungfräulichkeit zu betonen, und verriet ihnen die Namen einiger Dörfer und die der meisten Menschen aus ihrem.
»Hast du Freunde, die du von der Wahrheit überzeugen kannst?«, fragte Ben. »Dir glauben sie bestimmt eher als uns.«
»Keine, die jetzt nicht auf Vaters Seite sind.«
»Und dein … na, du weißt schon.«
Mit zusammengepressten Lippen schüttelte sie den Kopf und sah ihn ängstlich an.
»Wenigstens er muss doch zu dir halten.«
»Pah.« Anula sah ihn belustigt an. »Dafür, dass du selbst einer bist, kennst du die Männer ziemlich schlecht.«
»Dafür, dass du behauptest, einen zu lieben, machst du die Männer ziemlich schlecht«, antwortete Ben und wandte sich wieder an Vilette: »Meinst du nicht, dass er zu dir hält?«
Verzweifelt sah sie von Ben zu den Drachen und zurück. »Also, nein, er …«
»Du bist noch Jungfrau«, fuhr Anula auf.
Vilette wurde rot und sah rasch zu den Drachen. Keiner rührte sich, um über sie herzufallen.
»Aber warum hast du uns nicht die Wahrheit gesagt?«, fragte Ben.
»Weil …« Wieder sah sie zu den Drachen. »Ich wollte sichergehen. Ich wusste ja nicht, ob …«
»Schon gut.« Anula fasste ihr tröstend an den Arm.
»Und dein Vater hat dich trotzdem verprügelt?«, fragte Ben.
»Er glaubt den Drachen. Er ist überzeugt, dass sie es riechen können und ich lüge.«
»Na, dem werde ich was erzählen«, knurrte Ben.
»Nein, bitte, lasst ihn in Ruhe. Vielleicht könnt ihr ihn ja überzeugen, dass die Legenden lügen und ich unschuldig bin? Dann könnte ich wieder zurück.«
»Du willst trotz allem zurück?«
Vilette blickte zu Boden, nickte aber. Wie Yanko, dachte Ben. Er konnte das nicht verstehen.
Also flogen sie in ihr Heimatdorf und redeten wieder auf die Leute ein. Niemand wirkte freundlich, doch nahm diesmal auch keiner ein Beil zur Hand. Auf Vilettes Wunsch erzählten sie nichts von ihr, nannten die Dörfler aber bei ihren Namen, um Vertrauen aufzubauen, und halfen, ein beschädigtes Schiff an Land zu heben. Dem Mann, dem es gehörte, holten sie schnell ein paar größere Fische aus dem Meer, damit seine Familie nicht Hunger leiden musste. Er dankte ihnen brummig, versicherte zugleich jedoch, dass er sie noch immer für verflucht und Samothanbeter hielt. Die Umstehenden nickten, und doch hatte niemand bislang die Bekanntmachungen von den Bäumen abgehängt.
In anderen Dörfern war das anders. Zahlreiche Pergamente waren heruntergerissen, und in einem lang gezogenen Dorf an der Straße von Rhaconia nach Dherrnbruck sahen sie von oben einen Ritter auf dem Tempelplatz, der von einem Drachen und einem Knappen begleitet wurde und mit großen Gesten auf die Einwohner einredete. Dort landeten sie nicht.
Zwei weitere Drachenritter erblickten sie im Lauf des Tages, die jeweils von einem Dorf zum nächsten eilten. Ein deutliches Anzeichen dafür, dass sie den Orden aufgeschreckt hatten, nun galt es vorsichtig zu sein. Auch wenn sie
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