Das Verlies
mein lieber Bruder wird aller Voraussicht nach schon heute Nachmittag das Krankenhaus verlassen können. Glaubst du mir jetzt endlich, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht?«
»Kommt das denn der Polizei nicht auch seltsam vor?«
»Diese Scheißbullen können mich mal! Die kapieren doch überhaupt nicht, was wirklich los ist. Ich werde die Sache jetzt selbst in die Hand nehmen.«
»Was hast du vor?«
»Ich werde beweisen, dass Rolf mehr Dreck am kleinen Finger hat, als es in der ganzen Kanalisation von Frankfurt gibt. Derhat mich mein Leben lang verarscht, jetzt drehe ich den Spieß um.«
»Wolfram, wenn dein Bruder wirklich so durchtrieben ist, wie du behauptest, dann spielt er vielleicht auch jetzt mit dir, und du merkst es gar nicht.«
»Mach dir keine Sorgen, ich bestimme ab sofort die Regeln. Er ist auf mich reingefallen. Wenn er anfängt, mir finanziell helfen zu wollen, weiß ich, dass ich ihn habe. Denn Rolf sitzt normalerweise auf seinem Geld wie eine Henne auf ihren Eiern. Der hat noch nie im Leben auch nur eine müde Mark für mich lockergemacht, egal, wie dreckig es mir ging.«
»Aber Menschen können sich doch auch ändern, vor allem nach einem solchen Schockerlebnis. Ich finde, du solltest erst einmal prüfen, ob er es ernst meint, und dann urteilen.«
Wolfram sah Andrea tief in die Augen und nahm sie in den Arm. Nach ein paar Sekunden ließ er sie los und sagte ernst und mit traurigem Blick: »Ich habe dir nie von meiner Familie erzählt, du kennst nur Bruchstücke. Aber wie ich dir gestern gesagt habe, du hast ein Recht darauf zu erfahren, was ich seit meiner Geburt erlebt und durchgemacht habe. Und das wünsche ich weiß Gott niemandem. Aber nicht jetzt, Markus ist wichtiger.«
»Einen Augenblick noch. Ich hab vergessen, dir zu sagen, dass dein Vater vor ein paar Minuten angerufen hat. Du möchtest ihn bitte auf seinem Handy zurückrufen.«
»Hat er gesagt, was er will?«
»Nein, wir haben nur ganz kurz telefoniert.«
»Und meine Mutter hat sich bis jetzt nicht gerührt? Das ist eigentlich nicht ihre Art, normalerweise hätte ich erwartet, dass sie längst auf der Matte steht und Markus zu sich holen will. Seltsam.«
»Was weiß ich, was da bei euch los ist. Jetzt ruf deinen Vater an und sieh zu, dass du Markus ein bisschen aufmunterst. Der springt mir sonst noch aus dem Fenster.«
»Ich bin hilflos«, gab Wolfram Lura zu. »Aber wenn ich mirvorstelle, er wird für die nächsten Jahre von seinem Vater und seiner Großmutter … Nee, das darf ich nicht zulassen. Lieber behalte ich ihn bei mir, vorausgesetzt, du bist einverstanden.«
»Darüber reden wir noch, wenn’s so weit kommen sollte. Ich dreh mal ’ne Runde um den Block, ich muss abschalten.«
»Mach das. Und denk dran, ich liebe dich.«
»Schön. Ich hoffe nur, dieser Albtraum ist bald zu Ende.« Sie zog ihre Jacke über, nahm den Schlüssel vom Bord und verließ die Wohnung.
Wolfram begab sich zu Markus, der ihn aus rot geweinten Augen ansah. »Du, ich muss nur noch mal schnell telefonieren, dann bin ich bei dir. Du musst mir sagen, was in deinem Kopf rumschwirrt. Versprichst du mir das?«
Markus nickte nur. Wolfram Lura nahm den Hörer in die Hand und stellte sich ans Küchenfenster. Er wartete, bis sein Vater sich meldete.
»Hallo, ich bin’s. Ich sollte dich anrufen.«
»Ich habe schon die ganze Zeit auf deinen Anruf gewartet. Können wir uns sehen?«, fragte sein Vater.
»Gerne. Komm am besten her, ich kann Andrea nicht andauernd mit Markus allein lassen. Wo bist du jetzt?«
»Ich habe deiner Mutter gesagt, ich müsste mir ein wenig die Beine vertreten. Passt es dir um drei?«
»Klar. Aber du klingst so geheimnisvoll.«
»Nicht am Telefon. Wir sehen uns nachher.«
Wolfram starrte, nachdem das Gespräch beendet war, verwundert und irritiert zugleich auf den Hörer, bevor er ihn wieder zurück auf die Einheit legte. Er hatte diesmal anders geklungen als sonst, wenn sie telefonierten, was sie ohnehin meist heimlich machten. Diesmal war ein Unterton in seiner Stimme, der Wolfram aufhorchen ließ und nachdenklich machte.
Markus saß noch immer regungslos auf der Couch. Sein Onkel setzte sich zu ihm und sah ihn von der Seite an.
»Möchtest du was trinken?«
»Nein.«
»Wie lange willst das denn noch durchhalten? Bis du ausgetrocknet bist?«, fragte Wolfram scherzhaft, in der Hoffnung, der Junge würde dadurch etwas lockerer werden. Keine Antwort.
»Deine Mutter ist jetzt bei dir, auch wenn du sie nicht
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