Das Verlies
trauriger.
»Hallo«, sagte Julia Durant, »ich hoffe, wir stören nicht. Wir wollten uns nur noch einmal kurz mit Ihnen unterhalten.«
»Nein, kommen Sie nur. Meine Mutter ist noch hier und kümmert sich um Maximilian. Verena ist heute auch nicht zur Schule gegangen, sie sitzt nur noch in ihrem Zimmer und heult sich die Augen aus. Und ich sehe bestimmt auch schrecklich aus, oder? Na ja, ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Ich bin müde, aber ich kann nicht schlafen. Da helfen nicht einmal Tabletten oder Alkohol.« Ihre Stimme war schwer, ihr Atem roch nach Alkohol.
»Das ist normal«, sagte Durant und nahm neben HellmerPlatz. »Jeder, der einen geliebten Menschen auf eine solche Weise verliert, fällt erst einmal in ein schwarzes Loch.«
»Bei mir ist es kein schwarzes Loch, in mir ist eine totale Leere. Ich kann es nicht einmal beschreiben, es ist irgendwie, als würde ich durch einen endlosen Nebel laufen. Und da ist natürlich auch immer die Frage nach dem Warum. Warum hat Werner das getan? Hat er es überhaupt getan?« Sie zuckte mit den Schultern und sah Julia Durant Hilfe suchend an. »Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, dass er zu so etwas fähig gewesen sein soll. Werner, ausgerechnet er …«
Sie wollte noch etwas hinzufügen, als ihre Mutter die Treppe herunterkam. Sie reichte erst Durant, dann Hellmer die Hand und sagte zu ihm: »Ich bin die Mutter von Frau Becker. Ihre Kollegin und ich haben uns gestern schon kurz gesehen. Meine Tochter ist völlig durcheinander, was ja auch verständlich ist.« Sie setzte sich neben Corinna Becker und streichelte ihr über den Rücken. »Meine Tochter und ich haben uns die ganze Nacht unterhalten, wie das passieren konnte, und …« Sie fuhr sich mit der Zunge über die in leichtem Rosé geschminkten Lippen, bevor sie weitersprach. »Wissen Sie, je länger ich darüber nachdenke, umso unwahrscheinlicher erscheint mir das, was Sie sagen. Ich will auf keinen Fall Ihre Kompetenz anzweifeln, das liegt mir fern, aber ich würde auch heute noch beide Hände für meinen Schwiegersohn ins Feuer legen, dass er niemals etwas derart Abscheuliches getan hätte. Mag sein, dass ich mich total in ihm getäuscht habe, aber ich kenne ihn seit gut zwölf Jahren. Er war ein Schwiegersohn, wie ihn sich jede Mutter für ihre Tochter wünscht, aufmerksam, immer höflich, hat stets die Contenance bewahrt und war ein fürsorglicher Ehemann und Vater. Und glauben Sie mir, meine Menschenkenntnis hat mich bisher nie im Stich gelassen.«
»Sie haben sich oft gesehen?«, fragte Durant.
»Ich wohne doch nur wenige Minuten von hier und komme mindestens dreimal in der Woche vorbei. Meine Tochter hatIhnen ja erzählt, dass es seit der Geburt von Max ein paar Probleme gegeben hat, aber Werner hat ganz offen mit mir darüber gesprochen. Ich kannte beide Seiten, seine und die meiner Tochter. Er war natürlich nicht sonderlich glücklich darüber, dass Corinna sich so zurückgezogen hat, aber er hat stets betont, dass er sie liebt und sich nichts sehnlicher wünscht, als dass alles wieder so wird wie vorher.«
»Hatten Sie Kenntnis von seiner Affäre?«, fragte Durant.
»Nein, das hatte ich nicht.« Sie machte eine kurze Pause und sagte zu ihrer Tochter: »Corinna, es wäre vielleicht ganz gut, wenn du dich kurz um Max und Verena kümmern würdest. Ich mach das hier schon.«
Corinna Becker erhob sich wie in Trance und ging wortlos nach oben.
»Frau …«
»Oh, Entschuldigung, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich heiße Katharina Sauer.«
»Frau Sauer, warum haben Sie Ihre Tochter nach oben geschickt?«, fragte Durant geradeheraus.
»Ich wollte mit Ihnen allein sprechen. Es stimmt zwar, dass Corinna und ich uns die ganze Nacht unterhalten haben, aber es gibt etwas, das Sie wissen sollten. Mein Gott, wie soll ich es nur ausdrücken … Vielleicht sollte ich Ihnen erst einmal sagen, was heute Nacht wirklich war. Corinna ist wie ein aufgescheuchtes Huhn durchs Haus gelaufen und hat die ganze Zeit geheult. Da hat es auch nicht viel gebracht, wenn ich sie zu trösten versuchte. Es war mitten in der Nacht, als sie plötzlich das Bügelbrett aufgestellt und gemeint hat, sie müsste noch ein paar Hemden von Werner bügeln, er braucht doch jeden Tag ein frisches, wenn er in die Kanzlei fährt. Na ja, ich habe sie gewähren lassen, was hätte ich auch anderes tun sollen? Sie weiß im Moment einfach nicht mit der Situation umzugehen. Normalerweise sage ich ihr, sie soll nicht
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