Das Verlies
siehst. Aber wenn du genau darauf achtest, kannst du sie hören und vielleicht auch spüren«, sagte er, obwohl er sich nie mit dem Gedanken an ein Leben nach dem Tod auseinander gesetzt hatte, Gott für einen Mythos hielt, eine Einbildung von Menschen, die von einer besseren Welt träumten.
»Ich weiß«, erwiderte Markus mit trauriger Stimme, fast flüsternd. »Aber ich kann Mutti nicht anfassen. Ich will nicht zu Papa zurück. Er ist schuld, dass sie tot ist.«
»Deine Mutter war ein wunderbarer Mensch, ich hab sie unheimlich gerne gehabt. Sie wird uns allen fehlen. Aber du bist noch so jung, und die Zeit wird kommen, da wirst du nur noch schöne Gedanken an die Vergangenheit haben.«
Markus schien die letzten Worte nicht gehört zu haben, denn er sagte: »Mutti hat mir immer von einem Traum erzählt. Sie hat in einem wunderschönen großen Haus gelebt, da war viel Sonnenschein und alles Mögliche. Sie hat ihn mir vorgestern erst wieder erzählt, weil sie ihn wieder geträumt hat. Ich hab sie gefragt, ob ich auch in dem Haus bin, und sie hat gesagt, ja, ich bin auch dabei. Aber ich habe gewusst, dass sie lügt. Sie war allein in dem Haus. Ich glaube, sie hat ihren Tod geträumt. Sie hat mir immer so viel erzählt.«
Als Markus nicht weitersprach, fragte Wolfram: »Was denn alles? Auch Sachen von deinem Vater?«
»Er hat sie immer geschlagen und angeschrien und … Ich hasse ihn. Warum lebt er, und sie ist tot? Das ist so ungerecht. Wenn ich wieder zu ihm muss, bringe ich mich um.«
»Markus, hör zu, so was darfst du nicht einmal denken. Ich bin ganz, ganz sicher, dass deine Mutti auf dich aufpasst und dafürsorgen wird, dass dir nichts passiert. Ich war vorhin bei deinem Vater, und er hat gemeint, dass er dich vielleicht auf ein Internat schickt. Würdest du das wollen?«
Markus zuckte nur mit den Schultern.
»In einem Internat bist du rund um die Uhr mit andern Kindern zusammen. Du wohnst dort und kannst ab und zu nach Hause kommen …«
»Ist mir egal.«
»Glaubst du an Gott?«
»Hm. Mutti hat jedenfalls gesagt, dass es ihn gibt.«
»Komisch, ich hab nie an Gott geglaubt. Erzähl mir was von ihm, vielleicht kannst du mich ja überzeugen.«
»Er ist überall, er sieht alles, er hört alles, er kennt sogar deine Gedanken. Und er beschützt dich … Aber warum hat er Mutti nicht beschützt?«
»Ich kann dir darauf keine Antwort geben, aber denk einfach an den Traum deiner Mutter. Sie wohnt jetzt bestimmt in einem viel schöneren Haus, als ihr es habt. Und irgendwann seht ihr euch wieder.«
»Kann sein.«
Wolfram bemerkte, wie Markus plötzlich zu zittern anfing und ein erneuter Weinkrampf seinen kleinen Körper durchschüttelte.
»Komm her«, sagte er, nahm ihn in den Arm und streichelte über seinen Kopf. »Ich glaube dir, dass es sehr schwer ist, das alles zu verstehen, aber irgendwann wirst du es verstehen. Und wann immer du irgendwelche Probleme hast, ich werde immer für dich da sein, das verspreche ich dir hoch und heilig.«
Markus weinte fast eine Viertelstunde, bis er in Wolfram Luras Arm erschöpft einschlief. Er legte den Jungen vorsichtig hin, breitete eine Decke über ihm aus und erhob sich. Dann ging er an den Schrank und wollte schon nach der Whiskeyflasche greifen, als eine innere Stimme ihn zurückhielt. Und er dachte an die Mahnung von Andrea, dass er jetzt einen klaren Kopfbrauchte. Er machte die Klappe wieder zu, holte sich aus der Küche eine Flasche Wasser und trank sie innerhalb weniger Minuten leer.
Was immer du Gabriele und Markus angetan hast, du wirst dafür bezahlen, dachte Wolfram mit entschlossenem Blick. Du wirst für alles bezahlen, was du in deinem verfluchten Leben angerichtet hast. Alles, alles, alles!
Er hatte Hunger und wollte sich gerade eine Scheibe Brot machen, als Andrea mit einer großen Tüte in der Hand zurückkam und sagte: »Ich hab uns von McDonald’s Hamburger und Pommes mitgebracht, vielleicht …«
»Pssst.« Wolfram legte einen Finger auf seine Lippen und wies auf Markus. »Er ist endlich eingeschlafen«, sagte er leise. »Ich hab wenigstens ein paar Worte mit ihm wechseln können. Gabi hätte ihn nie allein gelassen!«
»Und was hat er gesagt?«, fragte Andrea, während sie die Tüte auf den Küchentisch stellte und ihre Jacke auszog.
»Er hat nur von seiner Mutter gesprochen und von einem Traum, den sie hatte. Mein Vater kommt übrigens um drei. Bin gespannt, was er will.«
»Bestimmt nichts Schlimmes, so wie ich ihn kenne.«
»Kann ich
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