Das Verlies
Lura zurück. Was wollen Sie über sie wissen?«
»Eigentlich geht es um Rolf Lura, einen der beiden Söhne. Uns wurde berichtet, dass er als Kind und Jugendlicher häufig bei Ihnen in Behandlung war. Können Sie uns sagen, weshalb?«
»Gute Frau, Sie haben Glück, dass ich im Ruhestand bin, sonst dürfte ich Ihnen diese Auskünfte gar nicht geben. Eigentlich darf ich das auch jetzt nicht, aber in diesem speziellen Fall will ich gerne eine Ausnahme machen. Ich hoffe nur, Sie schwärzen mich nicht an«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln.
»Nein, das tun wir nicht.«
»Ja, der Rolf, das war ein seltsamer Bursche. Ich erinnere mich sogar sehr gut an ihn. Ich habe meine Praxis 1955 hier eröffnet, nachdem ich erst im Krieg als Lazarettarzt tätig war und danach fast zehn Jahre in einer Privatklinik in Paris gearbeitet habe. Herr Lura senior hatte ein gut gehendes Autohaus und war für die damaligen Verhältnisse sehr wohlhabend. Ihn habe ich aber kaum einmal zu Gesicht bekommen, dafür Frau Lura und ihren Sohn Rolf umso mehr. Als Frau Lura mit ihm schwanger war, habe ich sie betreut. Damals war ich so etwas wie ein Landarzt, gar nicht mehr zu vergleichen mit dem, was meine jungen Kollegen heutzutage machen. Zu meiner Zeit waren Hausbesuche noch sehr wichtig, heute wird selbst von alten Menschen verlangt, in die Praxis zu kommen … Aber ich schweife schon wieder ab.«
»Das macht doch nichts«, sagte Durant verständnisvoll.
»Nun, ich habe Rolf von seiner Geburt an betreut. Er war ein aufgeweckter Kerl, aber als er so sieben oder acht Jahre alt war, hat er sich sehr oft verletzt. Schürfwunden, Schnittwunden, unerklärliche Bauchbeschwerden, weshalb ich ihn einige Male auf Drängen seiner Mutter ins Krankenhaus eingewiesen habe, woman aber nie einen körperlichen Defekt festgestellt hat. Ganz schlimm wurde es, als er in die Pubertät kam, so mit zwölf, dreizehn Jahren. Ich habe ihn mindestens einmal alle zwei Wochen gesehen, entweder in der Praxis oder bei ihm zu Hause. Er hatte alles Mögliche, und doch hatte er nichts. Ich hoffe, Sie können mir folgen.«
»War er ein Hypochonder?«
»Nein, nein, ein Hypochonder war er ganz bestimmt nicht, das hätte ich erkannt. Ich will jetzt nicht allzu negativ über ihn sprechen, aber er war ein durchtriebenes, egoistisches Bürschchen. Und seine Mutter, bitte verzeihen Sie, wenn ich so rede, aber diese Mutter hat ihn in allem auch noch unterstützt.«
»In was unterstützt?«
»Rolf hatte einen unglaublichen Dickkopf. Er hat seinen jüngeren Bruder, den ich kaum einmal zu Gesicht bekommen habe, gehasst. Das ist ihm einmal so rausgerutscht, als ich mit ihm gesprochen habe. Und Frau Lura hat sich auch abfällig über ihn geäußert. Für sie war Rolf der Liebling. Ich glaube, sie hat ihn mehr geliebt als ihren Mann. Nun, das tut aber nichts zur Sache, solche Fälle habe ich des Öfteren erlebt. Aber Rolf brauchte nur einen kleinen Kratzer zu haben, schon hat sie mich gerufen oder ist mit ihm hergekommen. Und ich glaube, Rolf hat sehr schnell rausgekriegt, wie das funktioniert, das heißt, wie er das zu seinem Vorteil nutzen konnte.«
»Inwiefern hat er das zu seinem Vorteil genutzt?«, wollte Durant wissen.
»Ich glaube, er hat sich manchmal selbst Verletzungen zugefügt, um so noch mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, als er ohnehin schon bekam. Einmal habe ich versucht, mit seiner Mutter darüber zu sprechen, doch wenn Sie diese Frau kennen würden, dann wüssten Sie, dass mit ihr nicht zu reden ist. Sie ist eine äußerst dominante, ich würde fast behaupten herrschsüchtige Person, aber ich weiß ja gar nicht, ob sie überhaupt noch lebt …«
»Wir hatten bereits das Vergnügen, mit ihr zu sprechen, und können diesen Eindruck nur bestätigen«, sagte Durant.
»Dann erzähle ich Ihnen ja nichts Neues. Aber jetzt habe ich den Faden verloren …«
»Es geht um die Verletzungen, die Rolf Lura sich selbst beigebracht haben soll«, half ihm Durant auf die Sprünge.
»Ah ja. Was ich sagen will, ich kann es nicht einmal konkretisieren, aber für einen gesunden Burschen, wie er es war, war er einfach zu oft krank oder verletzt. Später habe ich einmal Herrn Lura darauf angesprochen, denn mit ihm konnte man wenigstens einigermaßen vernünftig reden. Er sagte, dass Rolf immer dann etwas hatte, wenn ihm ein Wunsch nicht sofort erfüllt wurde oder er meinte, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Für meine Begriffe litt Rolf unter einer Art von Realitätsverlust, er
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