Das Verlies
war unangepasst, und wie es so schön heißt, er war nicht in der Lage, sich sozial zu integrieren oder angemessen zu verhalten. Sein Wille war Gesetz, und dafür hat er offenbar alles in Kauf genommen, auch große Schmerzen. Sein Vater hat dem hilflos gegenübergestanden, er war hilflos gegenüber seinem Sohn und seiner Frau. Der arme Mann hat mir Leid getan, das muss ich ganz ehrlich sagen.«
»Gab es gravierende Verletzungen, die Sie bei Rolf behandelt haben?«
»Sogar mehrere. Er hat sich den Arm gebrochen, dann das Bein und sich scheinbar zufällig eine schwere Schnittverletzung an der Hand zugezogen, aber es war immer das gleiche Muster, nach dem er vorging. Doch was hätte ich als Arzt machen sollen? Er hat ja niemandem wehgetan außer sich selbst. Man nennt das auch autoaggressives Verhalten. Man fügt sich Wunden zu und empfindet dabei sogar eine Art Hochgefühl.«
»Haben Sie ihm denn jemals zugetraut, dass er auch anderen Menschen wehgetan haben könnte?«
»Das ist bei solchen Persönlichkeitsstörungen schwer zu sagen. Aber Menschen mit autoaggressivem Verhalten sind inder Regel so stark auf sich selbst fixiert, dass sie keine Gewalt andern gegenüber anwenden. Doch dazu müssten Sie schon einen Psychologen befragen, der kennt sich mit so etwas besser aus. Ich bin ein psychologischer Laie. Aber sagen Sie mir doch bitte, warum Sie das alles so interessiert. Oder darf ich das nicht wissen?«
»Natürlich dürfen Sie das, vorausgesetzt, Sie erzählen es nicht weiter«, antwortete Durant lächelnd.
»Sie haben mein Wort darauf.«
»Herr Lura steht im Verdacht, seine Frau und einen Mann getötet zu haben, aber wir können ihm noch nichts beweisen, denn offiziell wurde er entführt und tauchte etwa achtundvierzig Stunden später mit zwei Schussverletzungen auf, die allerdings nicht lebensbedrohlich waren. Wir haben dann heute Vormittag erfahren, dass Herr Lura schon als Kind und Jugendlicher extreme Verhaltensauffälligkeiten gezeigt hat, weswegen wir auch mit Ihnen sprechen wollten. Herr Lura senior hat gemeint, dass Sie uns möglicherweise weiterhelfen können.«
»Aus welchem Grund sollte er etwas derart Furchtbares getan haben?«
»Vielleicht aus genau dem Grund, den Sie uns genannt haben – es ist nicht alles nach seinem Willen geschehen.«
Dr. Hahn überlegte eine Weile und schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen widerspreche, aber da muss noch mehr dahinter stecken. Sie sollten wirklich einen Psychologen zu Rate ziehen. Solange Rolf mein Patient war, was immerhin schon weit über zwanzig Jahre, wenn nicht sogar länger zurückliegt, so lange war er allein auf sich selbst fixiert. Was macht er eigentlich heute?«
»Er hat das Autohaus übernommen und von Grund auf neu strukturiert. Er handelt nur noch mit Luxusautos.«
»Ja, das passt zu ihm. Immer nur das Beste, das Größte und das Schönste. Und er im Mittelpunkt. So sieht er sich gerne. Ich würde Ihnen gerne weiterhelfen, aber mehr kann ich leider nichtüber ihn sagen. Ob er ein Mörder ist oder nicht, das müssen schon Sie herausfinden.«
»Aber würden Sie ihm zutrauen, dass er sich selbst zwei Schussverletzungen beibringt, um einen Mord zu vertuschen?«
»Gute Frau, ich weiß, dass er die Neigung hat, sich selbst zu verletzen, doch mehr möchte ich dazu nicht ausführen.«
»Aber vielleicht können Sie uns doch noch sagen, ob dieses autoaggressive Verhalten über das pubertäre Stadium auch noch im Erwachsenenalter auftreten kann.«
»Auch darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben. Wie gesagt, fragen Sie einen Fachmann, der sich auf diesem Gebiet auskennt.«
»Dr. Hahn, Sie haben uns sehr geholfen. Und sollten wir noch die eine oder andere Frage haben, dürfen wir uns dann wieder an Sie wenden?«
»Natürlich. Aber ich werde nur noch bis Ende November hier wohnen, danach finden Sie mich im Seniorenheim Sonnenblick.«
Er wollte aufstehen, doch Durant sagte: »Bleiben Sie ruhig sitzen, wir finden den Weg schon. Und nochmals vielen, vielen Dank.«
»Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen.« Durant reichte ihm die Hand, und auch Hellmer verabschiedete sich von dem alten Mann.
Der Regen hatte noch immer nicht nachgelassen, und laut Wetterbericht sollte es auch in den nächsten Tagen weitere Regenfälle geben.
»Ich denke, wir sind der Sache ein ganzes Stück näher gekommen«, sagte Durant im Auto. »Unser
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