Das Verlies
Sie ging in ihr Büro, schaltete den PC ein, zündete sich eine Zigarette an und wartete, bis der Computer hochgefahren war. Sie rief erst die Datei aller ungeklärten Mordfälle der letzten dreißig Jahre im Rhein-Main-Gebiet auf, stieß dabei jedoch auf keinen einzigen, den sie mit Lura in Verbindung bringen konnte. Es befanden sich vier Prostituierte darunter, dreizehn einschlägig vorbestrafte Kriminelle, zwei Frauen, die aber in ihrer Wohnung umgebracht und ausgeraubt worden waren, sowie neun andere Fälle, die Durant ebenfalls nicht mit Lura in Verbindung bringen konnte, weil es sich entweder um Rentner handelte, die einem Raubmord oder einem Mord aus anderen niederen Beweggründen zum Opfer gefallen waren, oder Morde, die eindeutig einen sexuellen Hintergrund hatten.
Nach gut anderthalb Stunden schloss sie die Datei und öffnete jene mit den vermissten Personen. Insgesamt waren seit 1972 zweihundertsechsundsiebzig Personen im Alter zwischen fünfzehn und fünfzig verschwunden, von denen es bis heute kein Lebenszeichen gab. Von den meisten dieser vermissten Personen existierte ein Foto, von jeder eine ausführliche Beschreibung (Größe, Geburtsdatum, Geburtsort, letzte Adresse) sowie die Tätigkeit, die die betreffende Person zuletzt ausgeübt hatte. Sieging Jahr für Jahr durch, bis ihr Blick wie gebannt bei einer jungen Frau hängen blieb.
Melissa Roth, zweiundzwanzig Jahre alt, Studentin der Fächer BWL und Anglistik, vermisst gemeldet am 14.12.1978, zuletzt gesehen am 13.12.1978 am späten Nachmittag, als sie die Uni verlassen hatte. Gegen achtzehn Uhr dreißig hatte sie noch mit ihrer Mutter telefoniert und wollte sich am Abend mit einem Kommilitonen treffen, der aber nicht kommen konnte, weil ihm alle vier Reifen seines Autos von Unbekannten zerstochen worden waren. Sie hatten sich für halb neun an einer Bushaltestelle unweit der Wohnung von Melissa Roth verabredet, wo er sie abholen und anschließend mit ihr essen gehen wollte. Das Alibi des jungen Mannes war einwandfrei. Er gab an, noch versucht zu haben, sie zu erreichen, aber sie schien zu diesem Zeitpunkt bereits das Haus verlassen zu haben, was nicht verwunderlich war, da beide Wohnungen nur zehn Autominuten auseinander lagen. Ein Busfahrer erinnerte sich noch, Melissa Roth an der Bushaltestelle gesehen zu haben, doch sie hatte abgewunken, als er anhielt, weil er annahm, sie wollte einsteigen. Die Polizei hatte in den folgenden Tagen und Wochen sämtliche Personen befragt, die Melissa Roth kannten, unter anderem alle Studenten und Dozenten, die in ihrem BWLbeziehungsweise Anglistikkurs waren. Dabei stellte sich heraus, dass sie eine lebenslustige junge Frau war, die keinen festen Freund hatte, aber kurzen Liebschaften gegenüber nicht abgeneigt war. Sie hatte sogar schon eine kurze Affäre mit einem ihrer Dozenten gehabt. Die Suche nach Melissa Roth blieb erfolglos, die Akte wurde nach zwei Jahren zu den unerledigten Fällen gelegt.
Durant trank einen Schluck Bier, nahm eine Hand voll Chips und lehnte sich zurück, während sie das Foto der jungen und überaus attraktiven Frau betrachtete. »BWL«, sagte sie leise zu sich selbst. »Und Lura hat zur selben Zeit auch BWL studiert. Bist du ihm in die Hände gefallen?« Sie steckte sich zwei Chips in den Mund und spülte mit Bier nach. »Wenn er in deinem Kurs war, dann muss er dich gekannt haben. Wahrscheinlich war ersogar hinter dir her, aber du hast ihn abblitzen lassen, und das hat ihm überhaupt nicht gefallen. Oder du hast ihm erst gar keine Beachtung geschenkt, was für ihn noch viel schlimmer gewesen sein muss. Kann natürlich auch sein, dass ich völlig danebenliege, aber irgendwie passt das zu meiner Vermutung, dass Lura nicht zum ersten Mal gemordet hat. Er muss auf dich gestanden haben, er wollte dich haben, und als er merkte, dass er für dich Luft war, hat er beschlossen, dich zu beseitigen. Sein erster perfekter Mord. Aber nicht perfekt genug.«
Sie stand auf und stellte sich ans Fenster, die Dose Bier in der Hand, und schaute hinunter auf die Straße, ein Blick, den sie nicht mehr lange würde genießen können, denn schon bald würde sie ihr neues, steriles, eintöniges Allerweltsbüro im vierten Stock mit Blick auf die Eschersheimer Landstraße beziehen. »Melissa Roth«, sagte sie. »Spätestens morgen werde ich wissen, ob du in einem Kurs mit Lura warst. Wenn ja, dann glaube ich zu wissen, was mit dir passiert ist. Also gut, und jetzt schaue ich mir noch die restlichen Jahre
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