Das Verlies
angezündet. »Halt dich fest«, sagte er mit ernster Miene, »Markus ist in der Schule. Sein Unterricht endet um zehn nach eins. Das heißt, er dürfte so gegen zwei zu Hause sein.«
»Jemand muss sich um ihn kümmern«, sagte Durant. »Wenn der erfährt, dass seine Mutter ihn allein zurückgelassen hat – nicht auszudenken! Ich krieg das nicht auf die Reihe. Wie kann eine Mutter so herzlos sein, wo sie doch selbst angeblich die Hölle auf Erden durchlebt hat.«
»Liebe macht blind, da vergisst du alles um dich herum. Wenn’s sein muss, sogar dein eigenes Kind. Das macht unseren Beruf so interessant, wir erleben immer wieder was Neues.«
»Dein Sarkasmus in allen Ehren, aber der Junge muss von hier fern gehalten werden. Mir fällt da nur einer ein – sein Onkel. Ichwerde ihn bitten, sich sofort auf den Weg hierher zu machen und nachher Markus von der Schule abzuholen. Danach soll er ihn mit zu sich nach Hause nehmen, vorläufig zumindest. Hatten wir schon mal so ein Familiendrama?«
Hellmer überlegte und schüttelte den Kopf. »Kann mich nicht erinnern.«
Julia Durant rief Wolfram Lura an. Er versprach, umgehend nach Schwanheim zu kommen.
»Wieso hast du ihm nicht gesagt, um was es geht?«, fragte Hellmer.
»Weil ich ab jetzt keinen Fehler mehr machen will. Hätte ich ihm alles erzählt, wäre er womöglich gleich in die Schule gefahren. Wir sagen’s ihm hier.«
Wolfram Lura kam zwanzig Minuten nach dem Telefonat, es war zwölf Uhr achtzehn. Sein Haar war ungekämmt, er trug eine abgewetzte Jeans, ein T-Shirt und eine Lederjacke darüber, an den Füßen hatte er ehemals weiße Turnschuhe.
»Was ist los?«, fragte er und deutete auf die Rollläden. »Wieso sind die alle unten?«
»Herr Lura, wie es scheint, ist Ihre Schwägerin auf und davon. Wir vermuten, dass sie etwas mit dem Verschwinden Ihres Bruders zu tun hat. Wir haben aber noch ein weiteres Problem – sie ist ohne Markus weggegangen. Könnten Sie ihn bitte von der Schule abholen und vorerst mit zu sich nehmen?«
Wolfram Lura starrte die Kommissare entgeistert an und schüttelte energisch den Kopf. »Hören Sie, Sie können mir alles Mögliche erzählen, aber eins weiß ich ganz sicher, Gabriele hätte Markus niemals allein gelassen. Ich war zwar nicht oft hier, aber eine bessere Mutter als sie kann ich mir nicht vorstellen. Nein, nein und nochmals nein!«
»Herr Lura, ich kann Ihre Erregung verstehen, aber wir haben es schon mit Dingen zu tun gehabt, von denen wir glaubten, es gäbe sie nicht …«
»Nein, Sie können offensichtlich meine Erregung nicht verstehen!Gabi und Markus sind ein Herz und eine Seele. Sie hat ihn immer wie eine Löwin ihr Junges verteidigt. Ich habe es selber miterlebt. Sie hat ihn beschützt, sie hat immer versucht, ihre persönlichen Probleme von ihm fern zu halten. Es konnte ihr noch so dreckig gehen, sie war immer für ihn da. Ganz im Gegensatz zu meinem Bruder, der sich einen Scheiß für Markus interessiert hat. Wenn der Junge vor Angst zitternd in der Ecke gesessen hat, weil seine Mutter mal wieder verprügelt wurde, dann hat das Rolf wahrscheinlich sogar noch geiler gemacht. Und deshalb garantiere ich Ihnen, dass Gabi nie im Leben Markus allein zurückgelassen hätte. Haben Sie einen Abschiedsbrief gefunden?«
»Nein.«
»Sehen Sie, das passt nämlich auch gar nicht zu ihr. Glauben Sie mir, ich kenne sie. Was immer passiert ist, es ist anders, als Sie jetzt vermuten.«
»Und was vermuten wir?«, fragte Durant.
»Ach, kommen Sie, das ist eine blöde Frage. Sie denken, dass Gabriele meinen Bruder umgebracht hat und jetzt auf und davon ist. Aber ich habe Ihnen gestern schon gesagt, dass Gabriele niemals zu einem Mord fähig wäre, und dazu stehe ich auch heute noch.«
»Und wenn sie einen Geliebten hat?«
»Bitte, was? Gabi und einen Geliebten? Jetzt verarschen Sie mich aber …«
»Sie halten das also auch für ausgeschlossen?«
»Absolut. Gabi ist nicht der Typ für so was. Außerdem, wann hätte sie sich denn mit einem andern Mann treffen sollen? Rolf hat ständig hier angerufen, um zu kontrollieren, ob seine über alles geliebte Gabi auch zu Hause ist. Nee …« Mit einem Mal stockte er und sah Julia Durant misstrauisch an. »Oder wissen Sie etwa mehr als ich?«
»Wir stellen nur Vermutungen an«, antwortete Durant ausweichend.
»Na gut, möglich ist alles. Es soll sogar Leute geben, die mit kleinen grünen Männchen gepoppt haben. Was soll’s auch. Macht es Ihnen was aus, wenn ich mir einen
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