Das verlorene Gesicht
nicht zulassen, dass Quinn Ihnen diese Gewissheit nimmt.« Sein Blick wanderte zu Joe hinüber, der gerade die Stufen zum Gebäude für Geowissenschaften hinaufstieg. »Und ich will mich nicht auch noch mit Quinn herumschlagen müssen.« Eve folgte seinem Blick. Es war, als würde sie Joe plötzlich in einem anderen Licht sehen. Er war stets selbstbewusst, seine Bewegungen waren elastisch und elegant, aber jetzt sah sie die gnadenlose Effizienz in seiner ganzen Haltung. Durchsetzungsfähig hatte sie ihn genannt und als durchsetzungsfähig kannte sie ihn, aber nicht als tödlich. Jetzt spürte sie diese tödliche Kraft. »Zur Hölle mit Ihnen.« »Wir alle sind Wilde«, sagte Logan ruhig. »Jeder ist in der Lage zu töten, wenn genug auf dem Spiel steht. Nahrung, Rache, Selbsterhaltungstrieb … Aber Quinn wusste, dass Sie damit nicht würden umgehen können, deswegen hat er Ihnen diese Seite seines Lebens vorenthalten.« »Und würden Sie auch töten, Logan?«, fragte sie erbittert. »Wenn die Umstände mich dazu zwingen würden. Und Sie würden es auch tun, Eve.« Sie schüttelte den Kopf. »Das Leben ist zu kostbar. Es gibt keine Entschuldigung für Mord.« Er zuckte die Achseln. »Eine Entschuldigung nicht, aber Gründe–« »Ich möchte nicht darüber reden.« Sie lehnte sich zurück, starrte aus dem Fenster und entzog sich ihm. »Ich möchte überhaupt nicht mit Ihnen reden, Logan. Lassen Sie mich einfach in Ruhe, okay?« »Kein Problem.« Er hatte ja auch keinen Grund, weiter auf sie einzureden. Er hatte eine Schlange in die Welt gesetzt und jetzt reichte es ihm zuzusehen, wie sie ihr Gift zur Wirkung brachte. Aber das Vergnügen würde sie ihm nicht bereiten. Sie würde nicht zulassen, dass er ihr Vertrauen in Joe zerstörte. Logan war der Außenseiter, nicht Joe. Sie würde nicht grübeln und seine Worte an ihr nagen lassen. Logan sagte leise: »Aber Sie wissen, dass es stimmt.«
»Alles in Ordnung.« Joe öffnete die Wagentür und half Eve beim Aussteigen. »Die Luft ist rein. Kessler ist allein. Sein Assistent Bob Spencer war bei ihm, aber ich habe Kessler gebeten, ihn fortzuschicken.«
Eve nahm den Koffer mit dem Schädel. »Was hast du Gary erzählt?« »Nicht, was sich in dem Überraschungspaket befindet, aber über alles andere habe ich ihn ins Bild gesetzt. Du hattest Recht, er ist neugierig.« Er nahm ihr den Koffer ab und fasste ihren Ellbogen. »Packen wir’s an.« »Ich komme mir allmählich vor wie das fünfte Rad am Wagen.« Logan stieg aus. »Ich nehme an, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mitkomme?« »Ich habe etwas dagegen«, erwiderte Joe. »Aber ich werde Sie dulden, solange Sie nicht quer schießen.« Er beschleunigte seine Schritte, als er Eve über den Parkplatz geleitete. »Wie lange wird das dauern?« »Kessler wird nicht lange brauchen, falls er genug Ausgangsmaterial für die DNA-Analyse findet. Es ist die Laborarbeit, die mich beunruhigt. DNA-Analysen können Monate in Anspruch nehmen.« »Du kümmerst dich darum, dass Kessler ausreichend Material bekommt, und ich kümmere mich darum, dass die DNA-Analyse durchgeführt wird.« Joe hielt ihr die Eingangstür zu dem Gebäude auf. »Keine Sorge. Ich bin ziemlich durchsetzungsfähig. Das ist eine meiner–« Er starrte plötzlich auf ihr Gesicht. »Warum siehst du mich so an?« Hastig wandte sie ihren Blick ab. »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Erzähl mir keinen Blödsinn.« Sie schüttelte seine Hand ab und ging weiter. »Hör auf, in mich zu dringen, Joe. Es ist alles in Ordnung.« »Vielleicht.« Er sah Logan von der Seite an. »Vielleicht auch nicht.« Sie öffnete die Tür des Labors und sah Kessler an seinem Schreibtisch sitzen und ein Sandwich essen. Er blickte auf und warf ihr einen finsteren Blick zu. »Ich höre, Sie versuchen, mich ins Kittchen zu bringen. Besten Dank auch, Duncan.« »An Ihrem Schnurrbart klebt Senf.« Sie nahm Joe den Koffer ab und trat auf Kessler zu. Mit der Papierserviette, die auf dem Schreibtisch lag, wischte sie ihm den Schnurrbart ab. »Himmel, müssen Sie sich eigentlich beim Essen immer bekleckern, Gary?« »Essen sollte ein Genuss sein, wenn ein Mann allein ist. Man sollte nicht damit rechnen müssen, dass eine Frau hereinplatzt und einen kritisiert. Erst recht keine, die um einen Gefallen bettelt.« Er biss in sein Sandwich. »In was sind Sie da bloß reingeraten, Duncan?« »Ich brauche ein wenig Hilfe.« »Wenn die Nachrichten stimmen, brauchen Sie Hilfe von einem Anwalt, nicht von
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