Das verlorene Ich
...
Noch bevor Lilith den Stein ganz erreicht hatte, geriet die Erde vor dem Grab in Bewegung, in regelrechten Aufruhr!
Etwas, so hatte es den Anschein, versuchte von dort unten zur Oberfläche vorzudringen.
Etwas . Gewaltiges .!
*
Paris
»Vielleicht sollte ich dich doch gleich umlegen. Zwei Millionen Francs sind ja auch kein Pappenstiel, nicht?«
Natalja sah Hector Landers aus eisigen Augen an. Die Kälte aus dem schwarzen Mündungsloch ihrer Mpi schien jedoch noch sehr viel ärger zu sein. Es glotzte Landers entgegen wie eine leere Augenhöhle.
»Das solltest du nicht«, meinte Landers, ohne dem Blick des »Todesengels« auszuweichen.
»Nein, natürlich nicht.« Die rothaarige Schöne ließ die Waffe sinken.
Landers lächelte. Nach wie vor wußte er kaum etwas über sich selbst. Und die wenigen Dinge, die er ahnte, beunruhigten ihn, je länger er darüber nachsann. Daneben schien er allerdings durchaus ein paar Eigenschaften zu besitzen, die ihm gefielen. Seine geradezu überwältigende Überzeugungskraft gehörte dazu.
»Leg das häßliche Ding doch beiseite, ja?« bat er und wies auf die brünierte Waffe in Nataljas Hand.
»Ja, natürlich«, sagte sie, ein bißchen schläfrig.
»Na, siehst du. So gefällst du mir schon besser.«
Landers trat vor sie, berührte mit den Fingern sanft ihre Wangen und sah, wie Natalja erschauerte. Lächelnd wandte er sich ab und trat an die Tür zum Balkon, ohne jedoch hinauszugehen.
Der Unterschlupf des »Todesengels« lag in unmittelbarer Nähe zum Peres-Lachaise. Von hier oben aus sah der weitläufige Friedhof aus wie eine eigene, dichtbebaute Stadt mit erstarrten Wächtern. Viele der Grabmäler trugen kleine Dächer, mit Moos und Flechten überzogen, und auf manchen standen aus Stein gehauene Engelsund Heiligenfiguren, als könnten sie den ewigen Schlaf derer, die zu ihren Füßen ruhten, behüten.
Die Wohnung lag im Dachgeschoß eines unscheinbaren Hauses mit grauer Fassade, an einer Straße, wie es sie zu Hunderten in Paris gab. Nichts Besonderes - weder besonders schäbig noch besonders ausgefallen. Vielleicht lag es daran, daß niemand aus der hiesigen Unterwelt wußte, wo Nataljas Versteck lag, wie sie Landers erzählt hatte.
Ihre besondere Vorsicht mochte natürlich ebenso ihren Teil dazu beitragen, daß bislang alle Nachstellungen der Konkurrenz ergebnislos geblieben waren. Natalja betrat dieses Haus nie durch den Vordereingang, sondern schlich stets durch Hinterhöfe und die Keller der Nebengebäude hierher, um entweder durch die Hintertür oder eben den Keller in dieses Haus zu gelangen. Ein Auto benutzte sie nie zweimal, weil sie davon ausging, daß man sie damit beobachtet haben konnte und das Fahrzeug dann entsprechend präpariert hatte.
Der KGB mochte Natalja zwar eine gute Ausbildung gegeben haben, zumindest eine, die in ihrem mörderischen Geschäft einer Lebensversicherung gleichkam - aber zugleich hatte man aus dem Mädchen eine wohl unheilbare Paranoide gemacht.
»Warum hast du deine Heimat verlassen?« fragte Hector Landers, als er spürte, daß das Mädchen hinter ihn getreten war. Etwas wie ihre Aura berührte ihn einem kühlen Hauch gleich.
Sie zuckte die Schultern. »Ich wollte auf eigene Rechnung arbeiten.«
»Und das hat man so zugelassen?«
»Als die Sowjetunion in die Brüche ging, war man mit zu vielen anderen Dingen beschäftigt, als daß man sich um Aussteiger hätte kümmern können.«
»Und heute? Sucht man denn nicht nach Aussteigern, um sie zu bestrafen und zum Schweigen zu bringen?«
»Ich muß eben aufpassen«, meinte Natalja, als wäre es das Normalste der Welt, stets im Schatten des eigenen Todes zu leben.
Es mußte ein furchtbares Leben sein, fand Landers. Und doch ahnte er in diesem Moment, daß er womöglich ein ganz ähnliches führte - oder eben geführt hatte. Die Tatsache, daß ein Mann namens Gior-dan Vautier alle Hebel ihn Bewegung setzte, um seiner habhaft zu werden, war ein Zeichen, das in diese Richtung deutete. Vielleicht gab es auf der Welt noch mehr Menschen vom Schlage Vautiers; Menschen, die aus irgendeinem Grund ein Interesse daran hatten, Hector Landers zu beseitigen.
Was, überlegte Hector Landers, kann ich nur getan haben, um solchen Haß zu wecken?
Zumindest im Falle Giordan Vautiers mußte es etwas wirklich Furchtbares gewesen sein; er mußte diesen Mann in nicht wieder gutzumachender Weise verletzt, vielleicht gedemütigt haben.
Landers spürte, daß die Antwort nahe lag. Im wörtlichen
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