Das verlorene Ich
mir ein solches Ammenmärchen auftischen, jedenfalls reicht es mir!« Sie stieg aus.
Der Mann im Taxi machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten. Bevor sie die Tür zuwarf, hörte sie ihn nur noch murmeln: »So hübsch und so viele Haare auf den Zähnen . schade eigentlich .« Dann fuhr das gelbe Taxi mit einem Kavalierstart an und brauste die Fortsetzung der langen Straße hinunter.
Lilith stand ungefähr eine Minute auf dem Bürgersteig, der zwischen der asphaltierten Fahrbahn und dem völlig brachliegenden, unkrautüberwucherten Grundstück verlief.
Auf 333, Paddington Street erhob sich nicht einmal ein einziges Bäumchen - nur niedriges, anspruchsloses Gestrüpp, das vielfach aussah, als hätte die Sonne es durch den löchrigen Ozonschutz dieser Hemisphäre hindurch mit hautkrebsartigen Flecken übersät.
Endlich setzte sich Lilith in Bewegung, um den Ort zu betreten, an den sie sich auch jetzt noch nicht erinnerte.
Aber der Ort hatte sie nicht vergessen.
*
Paris
Alain Bruneau wußte, wann es besser, ja sicherer war, Giordan Vau-tier nicht anzusprechen, sondern abzuwarten, bis er von selbst das Wort ergriff.
Dies war ein solcher Moment.
Vautier stand reglos wie ein Denkmal seiner selbst da und starrte unverwandt auf das Telefon hinab, dessen Hörer er vor mehr als einer Minute aufgelegt hatte - nicht ungehalten, sondern vorsichtig, fast sanft; gefährlich sanft.
Über Lautsprecher hatte Bruneau mithören können, was der Anrufer mitgeteilt hatte. Er war einer von denen gewesen, die Vautiers Aufruf zur Jagd nach Hector Landers als erste vernommen hatten, mit dem Hinweis, wo das Opfer sich derzeit voraussichtlich befand. Nun, Landers war tatsächlich dort gewesen - und mit ihm offenbar eine ganze Reihe von Jägern. Doch nur einer dieser Jäger war erfolgreich gewesen.
Ungünstigerweise hatte dieser Jäger die Beute allerdings nicht erlegt, sondern nur dem Zugriff anderer entzogen. Die Absicht dahinter war klar - »Sie wird sich melden«, sagte Vautier leise, und Bruneau fühlte sich fast erleichtert, daß er das Schweigen endlich brach. Schwer wie ein tatsächliches Gewicht hatte es ihm zunehmend das Atmen erschwert.
»Natürlich«, stimmte Bruneau zu. »Sie wird ihre Forderungen stellen.«
»Wir werden sie erfüllen, egal was sie verlangt«, erklärte Vautier zum Erstaunen seines Vertrauten. Bruneau sah sich denn auch bemüßigt, einen Einwand vorzubringen.
»Das entspricht nicht Ihren sonstigen Gepflogenheiten. Man wird es als Schwäche auslegen und meinen, Sie würden die Zügel lockerer .«
Eine knappe Handbewegung Vautiers ließ ihn verstummen.
»Sie wird bekommen, was sie will«, beharrte Giordan Vautier. »Dann allerdings -«, er lächelte hart, »- werden wir dafür Sorge tragen, daß der Engel des Todes seinem Namen buchstäblich gerecht wird.«
»Ich gebe zu bedenken, daß diese Natalja ein harter Brocken ist, selbst für uns«, wandte Alain Bruneau ein. »Sie gehört zu den wenigen, die wir nicht in der Hand haben. Wir wissen noch nicht einmal, wo sie sich versteckt.«
»Besondere Ziele verlangen nach besonderen Wegen und Mitteln«, sagte Vautier nur. »Folgen Sie mir.« Er winkte ihm kurz zu und ging zum Privatlift, der bis hierher führte, ins Zentrum der Macht gewissermaßen.
Eine Ahnung keimte in Bruneau. Eine Ahnung, die Entsetzen schürte.
»Sie haben doch nicht etwa vor -?« begann er, als er neben Vautier in der holz- und spiegelvertäfelten Liftkabine stand.
Der alte Mann nickte.
»Ich sagte doch - besondere Mittel.«
Dann gab er auf einem Zahlenfeld einen Code ein, der ihnen den Weg hinab ins wahre Zentrum der Macht öffnete.
Dorthin, wo Vergangenes verborgen lag.
Dinge, die fast schon vergessen waren.
Weil sie Giordan Vautier mit Hector Landers verbanden.
Und während der Lift nach unten fuhr, glitten auch Vautiers Gedanken in die Tiefe .
*
... seiner Erinnerung
Die erste Begegnung zwischen Giordan Vautier und Hector Landers lag annähernd fünfzehn Jahre zurück. Und Vautier hatte Landers damals einzig empfangen, weil er dessen Dreistigkeit fast bewunderte. Er hatte um ein Treffen gebeten, als handele es sich um das Selbstverständlichste der Welt. Und er hatte hinzugefügt, daß Vau-tier es bereuen würde, wenn er dem Treffen nicht zustimmte. Nein, Landers hatte ihm nicht mit dem Tod oder ähnlichem Unsinn gedroht; daran waren schon andere gescheitert. Landers hatte nur erklärt, daß er sein Geschäft dann mit einem anderen abschließen würde. Ein Geschäft,
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