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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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flügge, durch Raubtierfänge verwundet vor
ihrem Nest gefunden, hatte er mit großer Mühe aufgezogen, und zwar
hatte er ihnen in der Ecke seines Dachfensters ein künstliches Nest
gebaut, in das er sie den Tag über setzte, so daß in der ersten Zeit,
angelockt durch ihr Rufen, die Alten noch herbeikamen und die Jungen
fütterten. Nachts bettete er sie zwischen seine Matratze in der linken
Ecke der Bettstatt. Er bedeckte ihre Wunden mit sammetweichen, kühlen
Gräsern, die er am Bachufer mühsam zusammensuchte. So führten die
Tiere, flügellahm und hinkend zwar, dennoch ein fröhliches Leben in
seiner sonnigen Zelle; er richtete sie in seinen freien Stunden mit
großer Geduld ab, so daß sie kunstvoll die Hälfte eines Chorals pfeifen
konnten. Er übernahm es auch, die schöne große, aber wilde Hauskatze an
den Umgang mit seiner Maus und den Vögeln so zu gewöhnen, daß er sie
einmal mit all ihren neugeborenen Jungen, tief und selig schnurrend,
auf seinem Bett fand, während die kleine Maus über sie hin und her
huschte und die Stare, auf der Stuhllehne des einzigen Stuhles sitzend,
pfiffen. Im Winter freilich hatte sich eines Tages die kleine Maus in
das hochgetürmte wärmende Heu verkrochen, aus dem er manchmal, wenn er
die Treppe emporgestiegen kam, ihr leises, weiches Piepsen zu hören
glaubte, als ob sie ihn riefe. Für die beiden Stare aber hatte er schon
längst ein geräumiges, luftiges Gehäuse aus ganz dünnen Holzstäbchen
geschnitzt und zusammengebaut, und als die Kälte kam und die Tiere auch
am Tage ihre Köpfchen mit den klugen Augen unter den Flügeln versteckt
hielten, setzte er sie behutsam hinein und trug sie hinüber in das
Wohnhaus.
    Das war das dritte Mal, daß er ein Wort an seine Mutter
richtete. Das zweite Mal war es geschehen, als er ihr seinen ersten
Lohn, wie einst als Kind, brachte. Er war wieder früh, als sie noch
allein war, über die Schwelle der Küche getreten, hatte ihr das Geld
auf der Hand hingehalten und gesagt: »Da hast du, Mutter!« Doch Emma
war wieder zurückgewichen, hatte abwehrend die Hand erhoben: »Nein,
nein! Was wollt Ihr? Das Frühstück ist noch nicht fertig!« und hatte
sich schnell abgewandt von ihm. Sie wußte nun wohl, daß es ihr Sohn
war, aber sie konnte nichts fühlen, nichts begreifen.
    Wenn sie in furchtbarer Erschütterung an dem Knecht Martin,
wie sie ihn auch vor sich selber nannte, jene tief vertrauten Zeichen
wiedererkannte, seinen steten Fleiß, der der ihres Sohnes gewesen war,
seine großen, kindlichen Blicke, die die ihres Kindes gewesen waren,
und dann seine Stimme, seinen sanften, tönenden Gesang, der einst
andächtig und voll Kraft in der Kirche über den Häuptern der betenden
Menschen erklungen war, dann war es ihr Fleisch, ihr Blut, ihr Herz, –
aber vergangen, versunken in einen fremden, großen, dicken Mann, der
Martin hieß. Und wenn er sie bei dem Namen Mutter rief, war es ihr, als
riefe ein Toter aus ihm, wie aus einem Grab hervor. Nie antwortete sie
mit dem Namen Sohn.
    Ein Fremder war er allen, bei denen er nun lebte. Mit seiner
schweren, massigen Gestalt, seinem dicht gelockten Bart, ohne Worte
lebend, abseits schlafend, mit sich allein seine Feierstunden haltend,
erinnerte er nicht an das Vergangene, nicht an das Böse, nicht an das
Gute, nicht an sich selbst. Der Herr, Klara, die Mutter, sie alle
erkannten ihn in ihm selbst nicht mehr. Doch er erkannte sie. Sie waren
noch die gleichen Menschen, nur von Kummer und Alter gezeichnet. Das
Antlitz der Mutter, von Narben durchschnitten, es war seine Mutter. Die
edle Gestalt des Herrn, sein kluges, blickverhangenes Gesicht, es war
sein Herr. Doch ihn rief man mit fremdem Namen, und selten nur rief man
ihn.
    Es drängte ihn oft, zu sprechen, aber er wagte nicht, auch nur
mit der Magd oder dem Knecht zu reden, denn er durfte nichts von sich
erzählen. Er verfiel von Zeit zu Zeit in tiefe Traurigkeit, oft sang
und weinte er zugleich. Er weinte auch nachts, im Traum, der stets ohne
Gesicht und Zeichen war, und beim Erwachen war dann sein Bart durchnäßt
von Tränen. Er sprach mit seinen Tieren in unverständlicher Sprache,
murmelnd bewegte er dann seine Lippen. Für die Tiere sorgte er. Mit dem
Käfig, in dem die Stare saßen, in der Hand, trat er an dem ersten
Wintermorgen zu seiner Mutter und sprach sie ein drittes Mal an. »Kann
ich die Vögel wohl in der Küche lassen, Mutter? Bei mir drüben ist's
kalt.«
    »Sagt

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