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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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Frieden der Dämmerung, die
schmeichelnd erfüllt war von dem sanften Murmeln des Baches und von dem
prächtig strömenden Duft der Linde, deren Blüten über ihrem Haupte,
unsichtbar fast, zwischen den Blättern hingen, in dem silbernen
Seidenschimmer des nächtlich sich rüstenden Himmels schlief sie ein.
Sie hörte nicht, daß man ihren Namen rief, und auf einen Wink des Herrn
weckte sie auch niemand auf. Doch nicht viel später erwachte sie von
selbst und eilte erschrocken den Hügel hinab. Die Dämmerung war ein
wenig noch gesunken. Mit ihren schlafbeschatteten Augen sah sie, vom
Hause kommend, den neuen Knecht. Seine starke, volle Gestalt, sein
fleischiges Gesicht, dessen untere Hälfte von einem dichten, lockigen
Bart bedeckt war, war ihr nur seitlich zugewandt. Sie sah ihn mit
scheuen, eiligen Schritten nach dem Stall gehen und dort in jene Tür
eintreten, hinter der sich die Treppe befand, die zu dem kleinen Gelaß
führte, das sie heimlich entdeckt hatte.
    »Das war der Martin,« dachte sie, »der soll also dort oben
schlafen.«
    Sie trat in die Küche ein, wo der Tisch vom Essen schon
abgeräumt war und nur für sie noch Milch, Speck, Brot und ein Stück
Kuchen bereit stand. Klara lächelte ihr entgegen: »Seit wann schläfst
du schon am Tage? Du bist doch die Jüngste von uns!«
    Aber Emma fragte ernst: »Warum schläft denn der neue Martin
oben im Stall?«
    »Es ist mir lieber so,« sagte der Herr, »er kann auf das Vieh
achten, im Winter hat es viel Marder gegeben.«
    Emma erwiderte nichts, eine Regung von Enttäuschung durchzog
so leise und heimlich ihre Seele, daß sie es selbst nicht spürte. Am
nächsten Morgen, in erster Frühe, als sie noch allein in der Küche
stand, deren Türen und Fenster weit geöffnet waren, und die von dem
zarten, wie Duft schwebenden Licht des aufgehenden Morgens ganz erfüllt
war, trat über die Schwelle, umflutet von der jungen Sonne, der neue
Knecht, groß und breit, mit fleischigen Gliedern, mit einem runden,
vollen Gesicht, das zarte, weiße und rosige Farben hatte und bedeckt
war von einem blonden, ungeschnittenen Bart, der in Locken sich
kräuselte. Auf dem Kopfe trug er eine Mütze, die bis tief in seinen
Nacken reichte. Er blieb unter der Tür stehen und sah sie mit großen,
blauen, kindlich leuchtenden Augen an. Auch Emma blickte ihn an. »Der
neue Martin«, sagte sie. Sie merkte, wie seine Blicke ihr Gesicht
durchkreuzten, wie sie die Wege ihrer vielen Narben gingen.
    »Mutter!« sagte er plötzlich mit sanfter Stimme. »Mutter,
Guten Tag!«
    Sie wich entsetzt zurück. »Nein«, stammelte sie und erhob ihre
rechte Hand, als wolle sie ihn fortscheuchen. »Nein, nein, Ihr heißt
doch Martin, was sagt Ihr da –«
    »Ich bin Fritz. Ich bin freigekommen. Der Herr will mich aber
Martin nennen. Es soll niemand wissen, wo ich herkomme.« Er schwieg,
und sie antwortete nicht. Sie hatte seine sanfte, schön tönende Stimme
wiedererkannt, aber ratlos wanderten ihre Augen um seine massige,
fremde Gestalt, ratlos kämpfte ihr Herz zwischen Entsetzen und einem
abgrundtief in ihrer Seele sich regenden Gefühl von Freude.
    »Es ist mir gut gegangen dort,« begann er wieder, »ich habe mich gut
gehalten. Alle waren zufrieden. Es ist vieles anders geworden mit mir«,
und er lächelte ihr zu mit Mund und strahlenden Augen.
    Emma hörte die Schritte der Magd die Treppe herunterkommen.
    »Komm herein«, sagte sie tonlos. Sie wandte ihm den Rücken und
ging zum Herd. »Setzt Euch nur, Martin, die Suppe ist gleich gut«,
sagte sie dann laut, während die Magd eintrat.
    Das Frühstück wurde gerichtet, alle kamen zusammen und aßen,
und der Fremdling saß von nun an wie heute immer mitten unter ihnen,
schwer, dick, mit vollem, lockigem Bart, großen, kindlich blickenden
Augen, nicht scheu und nicht keck, still, bescheiden und mit einer
sanft von ihm ausstrahlenden Heiterkeit. Bei der nun einsetzenden
schweren Erntezeit zeigte er sich überaus fleißig, unermüdlich,
geschickt, stark und schnell. Er sprach wenig, er lebte ganz für sich,
war aber bald umgeben mit Tieren. Er schien für Tiere eine tiefe
Zärtlichkeit zu empfinden, die er aber zu verbergen sich bestrebte. Er
pflegte die Pferde mit äußerster Sorgfalt und hielt die Ställe für
alles Vieh sehr sauber.
    In seinem kleinen Gelaß hatte er bald allerlei kleines Getier
um sich versammelt; er hatte eine Maus gefangen und sie gezähmt. Zwei
junge Stare, die er kaum

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