Das verlorene Kind
nicht Mutter!« antwortete Emma. »Es ist eine Sünde, wenn
ich so etwas sage, aber sage nicht Mutter zu mir. Ich habe immer
gewünscht und gebetet, du wärest tot, nun habe ich den Fluch davon, ich
kann nicht mehr fühlen für mein Kind. Es lebt noch, und ich müßte es
lieben, ich könnte es noch lieben, aber Gott hat es sterben lassen für
mich. Sagt nicht Mutter zu mir, Martin.« Sie weinte nicht, aber ihr
grenzenloser Jammer zitterte in ihrer Stimme, als sie die Worte sagte.
»Es ist aber besser geworden mit mir«, sagte der Sohn, sehr
sanft, als wolle er sie trösten.
Sie zwang sich, ihn anzusehen, sie durchforschte sein volles, rosiges,
bartbedecktes Gesicht; es glich nicht mehr dem eines Engels, es glich
nicht dem eines Teufels, es war ihr Kind nicht und nicht ihr männlich
entwachsener Sohn, und es war doch ihr Kind.
»Du Armer,« sagte sie, »du Armer!«
Sie nahm die Vögel aus seiner Hand und setzte sie auf einen
niedrigen Schrank, der in der Ecke in der Nähe des Fensters stand. Seit
dem Tage begann sie sich um ihn zu sorgen. Sie nähte an den
Winterabenden Wäsche für ihn und strickte ihm Strümpfe. In ihr wuchs
ein Gefühl auf für ihn, sie begann ihn zu lieben, doch so, als liebe
sie nun ein fremdes, einsames Kind an Stelle des verlorenen eigenen.
Schnell wie Tage vergingen die Jahre dieser kleinen
Gemeinschaft von Menschen. Ohne Ereignisse glitten sie ineinander, für
die Alternden, vom Leben nur noch zum Tode Ausruhenden, und für den
jungen Einsamen, dessen Kraft und Blüte in der tiefsten Wurzel
verdorren mußte. An Stelle des früheren zweiten Knechtes war auch ein
älterer gekommen, und die einäugige Magd war der einzige wirklich junge
Mensch unter ihnen allen. Sie war sehr lebensfroh, trotz ihres
Gebrechens. An den Sommerabenden eilte sie ins Dorf, wo sie singend und
scherzend in den langen Reihen der anderen Mädchen mitschritt, auch zum
Tanzen ging sie und war an einem Winterabend sogar einmal betrunken
nach Hause gekommen, so daß sie Emma in tiefem Schlafe des Morgens vor
der Küche liegend fand.
Im vierten Jahre der Zeit, da der neue Knecht Martin
eingezogen war, kam die Nachricht aus Amerika, daß die Söhne zum Besuch
in die Heimat abgereist seien. Still und ohne inneres Zeichen empfing
der Vater die Nachricht. Doch die beiden Frauen, Emma und Klara,
gerieten in eine große, freudige Erregung. Sie sprachen von nichts
anderem mehr, und lange vor der zu erwartenden Ankunft rüsteten sie das
Haus, öffneten die verschlossene Stube, in der die schönen,
rosenkranzgeschmückten Betten standen, jene Betten, in denen die
heimkehrenden Kinder in den Zeiten des Glücks empfangen und geboren
worden waren; wo der Schrank stand, noch immer gefüllt mit der Wäsche,
dem Schatz der jungen Frau, wo die Truhe stand, in der Brautkleid und
Schleier geruht hatten, und die nun schon so lange leer war. Die beiden
Frauen lüfteten, klopften, breiteten die Betten in die Frühlingssonne
aus, entfalteten frisches, weißes Leinen, von schweren Spitzen
durchzogen, vor den Fenstern rafften sie zarte Gardinen in schwebende
Falten. Sie wuschen das ganze Haus, buken Brot und Kuchen, alles viel
zu früh, so daß es wieder verzehrt werden mußte, damit es nicht
vertrockne. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß eine Reise so lange
dauern sollte, bald glaubten sie, daß sie die Kinder überhaupt nicht
angetreten hätten, bald fürchteten sie, das Schiff sei gesunken.
Endlich, es war schon im Juni, kam die Depesche, daß das Schiff in den
Hafen eingelaufen sei und die Reisenden in zwei Tagen auf der der
Heimat nächstgelegenen Poststation eintreffen würden. Bis dahin wollte
ihnen der Vater entgegenfahren, und endlich war der ersehnte Augenblick
gekommen für die Frauen, wo der Wagen aus dem Schuppen gerollt,
gewaschen und geputzt und mit den beiden Braunen bespannt wurde. Martin
hielt die Zügel dem Herrn hin, der allein kutschierte.
Gegen Mittag war er fortgefahren, und am Abend, in der ersten
Dämmerung, kam er zurück. Der Wagen bog von der Landstraße den Feldweg
ein, und die beiden Frauen sahen herzklopfend schon von weitem die
Gestalten, die er trug: zwei Männer, groß und schlank, in dunklen
Kleidern und mit städtischen Hüten auf dem Kopf, und zwischen ihnen
sitzend eine Frau, ein Kind auf dem Schoß. Der Wagen kam auf den Hof,
hielt beim Brunnen, und die Reisenden stiegen ab. Sie begannen sofort
alle durcheinander laut und lachend zu sprechen,
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