Das verlorene Kind
Silberstücke, Kupfer- und
ausländische Münzen, und unter dem obersten Einsatz, der abzuheben war,
lagen zusammengefaltet die Papiere: die Urkunde über die Pacht der
Domäne, der Trauschein, die Geburtsurkunden und Taufbriefe der Kinder.
Christian faltete alles auseinander, las und legte es breit
vor sich hin. Er schlug die Wirtschaftsbücher auf, die
Sparkassenbücher, fünf an der Zahl, lautend auf seinen Namen, auf den
Namen der Frau und der drei Kinder. Er las die Daten der Eintragungen.
Zu jedem Geburtstag, zu Weihnachten, nach Genesungen von kleinen
Krankheiten hatte er die Summen vermehrt. Der Mutter hatte er bei der
Geburt jedes Kindes eine heimliche Einzahlung von hundert Talern
geleistet. Sein eigenes Barvermögen bestand aus viertausend Talern, so
viel, als er gewollt und erstrebt hatte. Er hatte den Ertrag der Felder
auf das Vierfache gesteigert Der Erlös aus den Herden und den Produkten
allein reichte aus für die Erhaltung des großen Gesindes, für die
reichen und guten Anschaffungen an Geräten, Wagen, für Steuern und
reiche Almosen, für die Erziehung der Kinder und für die Pacht.
Christian las die Bücher, prüfte die Summen, übersah die Arbeit seiner
Jugend, den Segen seiner Mühen, sein Leben baute er noch einmal um sich
auf. Zuletzt ergriff er noch ein Buch, schwarz und schmal gebunden, und
hielt es in der Hand. Auf der weißen Etikette des Umschlags stand
geschrieben: »Clara, Charlotte, Anna B.«, und auf der ersten
Seite, die er aufschlug, stand links »Mit Gott!« und auf der rechten
neun Eintragungen zu je zehn und fünfzehn Talern. Es war das Sparbuch
für das verlorene Kind. Sein kleiner Besitz, bestimmt, sich zu
vergrößern mit den Jahren seines Lebens, mit der Zahl seiner
Freudentage. Christian sah es lange an, dann räumte er alles zurück an
seinen Platz, ergriff einen Bogen Papier und entwarf sein Testament für
die Frau und die beiden Söhne.
Von der Mutter erhielt Fritz den Befehl, den Hof zu reinigen,
der noch immer beschmutzt war mit den Resten des verbrannten Holzes und
des Mistes. Er erschrak, denn er hatte sich in Gedanken seine Arbeit so
schön eingeteilt, erst das Reinigen der Ställe, dann das Ordnen der
Geräte, das Hacken auf dem Kartoffelacker, die Arbeit im Garten, wo er
heimlich die Obstbäume stützen wollte, zur Überraschung für die
anderen, die in diesen Tagen verwirrt einherliefen und die gute Ordnung
der Arbeiten ganz vergaßen. Er aber freute sich mehr als je auf seine
Arbeit, und wenn er jetzt den Hof waschen mußte, würde ein anderer sie
tun, und alles war umgestoßen. Trotzdem eilte er gehorsam über den Hof
zur Scheune, wo unter dem Dachvorsprung die Geräte hingen. Er holte den
großen Reisigbesen, den Wassereimer und die Gießkanne, lief zum Brunnen
zurück, schöpfte Wasser und begann den Hof auszuwaschen. Die Sonne
brannte, das Wasser, vermengt mit den Resten des Dungs, dunstete übel.
Schweiß rann ihm von der Stirn. Unermüdlich holte er frisches Wasser,
schwemmte und rieb die Steine, bis endlich doch der große Hof wieder
sauber und feucht in der Sonne glänzte. Er wusch noch sorgfältig den
Besen in klarem Wasser aus, spülte die Eimer und trug alles an seinen
Platz zurück.
Zum vierten Male an diesem Morgen kam Fritz an dem offenen Tor
der Scheune Nummer vier vorbei. Ein Vogel stieß aus dem Dunkel ins
Licht, senkte sich trillernd tief im Flug an ihm vorbei. Fritz stand
still und blickte in den hohen, weiten, schweigenden und schwarzen Raum
hinein. Da drinnen war etwas geschehen mit ihm, ganz im Verborgenen,
etwas hatte er getan, was er noch nie getan hatte, er war ein Mann,
kein Kind mehr. Er tastete an seinen Kleidern, waren sie nicht mitten
am Tage geöffnet gewesen? Scham ergriff ihn, vorsichtig schlich er
einige Schritte in die Scheune hinein. Nein, er hatte alles in Ordnung
gebracht. Es war dunkel und heiß, kaum konnte er sehen. Beruhigt ging
er wieder hinaus. Des Kindes erinnerte er sich nicht, aber etwas hielt
ihn auch ab, an es zu denken, wenn die anderen von ihm sprachen, noch
vermochte er selbst von ihm zu sprechen. Sein zu furchtbarer Einsamkeit
verdammtes Herz fühlte keine Liebe und keinen Schmerz, ruhig war sein
Gewissen und tief sein Schlaf, der abends über seinen arbeitsmüden
Körper fiel.
Am wahrsten und tiefsten trauerte Emma um die kleine Anna.
Denn sie dachte nur an das Kind, sehnte sich nach seinem lieben Anblick
und zerrieb sich in Sorgen und Kummer
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