Das verlorene Kind
über sein Verschwinden. Es quälte
sie, daß sie nicht helfen konnte in diesem furchtbaren Unglück, das so
tückisch, so versteckt war, das keinen Namen hatte wie alle anderen, wo
man Hilfe bringen konnte, wie bei Krankheiten, oder sich in Demut unter
Gottes Willen beugen mußte, wie bei dem Tod. Aber so konnten nicht
einmal ihre Gedanken das Kind umgeben, das verschwunden war,
irgendwohin, schlimmer als in ein Grab, an das man treten konnte. Voll
Liebe, voll Hingabe verrichtete sie ihre einfachen Arbeiten, als könnte
sie dadurch das Böse besänftigen, die Schmerzen lindern. Neben ihrer
Trauer um das Kind dachte sie noch an den Herrn, an die Frau und an die
Söhne, denen sie nachgesehen hatte, wie sie traurig und verwaist zum
Wald zur Arbeit gegangen waren. Alle umfaßte ihr gutes, starkes Herz,
mit allen versuchte sie mitzufühlen, um alle sorgte sie sich. Tränen
stiegen ihr in die Augen. Da öffnete sich die Tür der Küche leise, und
Fritz kam langsam herein, gebeugt unter einem großen hölzernen
Wassertrog, den er auf dem Rücken trug. Er stellte ihn vorsichtig auf
der Bank neben dem Herd ab, ohne den kleinsten Tropfen zu verschütten,
und wollte sofort wieder hinaus an seine Arbeit.
Emma rief ihn. Er wandte sich zu ihr und sah sie ruhig an. Sie
blickte über sein volles, sanftes Gesicht, über seine große, starke
Gestalt, dann eilte sie auf ihn zu, umfing ihn und preßte seinen Kopf
an ihre volle weiche Brust. Ihr Kind war auf dem Gut neben den anderen
aufgewachsen, gesund und gut, wie sie es stets gesehen hatte, versorgt
mit guter Nahrung und Kleidung, erzogen zu redlicher Arbeit, die ihm
gerecht belohnt wurde. Nie hatte sie Last und Sorgen um ihn gespürt.
Sie hatte ihn auch nicht mehr geliebt, nicht mehr betreut und
geliebkost als die anderen Kinder, die Kinder des Herrn. Jetzt fühlte
sie plötzlich, daß er ihr Kind war, ein Teil ihres Wesens, ihres
Fleisches und Blutes. Sie fühlte noch einmal, wie sie ihn empfangen
hatte mit bitteren Schmerzen und geboren in Schmerzen, aber in Freude,
wie sie ihn genährt hatte mit der Nahrung ihrer Brust, die
geheimnisvoll mit ihm zugleich in ihrem Leib entstanden war. Und nun
erschütterte sie das Glück, daß ihr Kind noch da war, unverloren, daß
es, behütet vor so furchtbarem Schicksal, groß geworden war, daß es in
ihrer Nähe lebte und sie es umarmen konnte. Unaufhörlich strich sie
über seinen goldgelockten Kopf und ließ ihre Tränen darauf
niederregnen. Denn zugleich mit ihrem Glück ermaß sie den Schmerz der
anderen, der unglücklichen Mutter.
Fritz, tief in die Umarmung seiner Mutter gepreßt, hielt
still. An seinem Ohr hörte er das Pochen ihres Herzens, es kam weich,
klar und fern aus der Tiefe ihrer reichen Brust Es jagte ihn nicht auf,
in wohliger Ruhe fühlte er die Wärme des mütterlichen Blutes an seinem
Körper herabströmen. Er fühlte, nun war alles gut, alles mit ihm in
Ordnung, und mit den Armen umschlang er fest die volle, weiche Gestalt
der Mutter, wühlte seinen Kopf mit sanftem Druck tiefer in ihre Brust
hinein. Gemeinsam hob und senkte sich beider Atem.
Im Wohnzimmer war inzwischen eine Kommission der Justizbehörde
eingetreten, die gekommen war, das Terrain zu besichtigen und den
Tatbestand aufzunehmen. Am frühen Morgen schon hatten sie sich von den
Nachforschungen, die mit soviel Planmäßigkeit und Genauigkeit vollführt
worden waren, Bericht erstatten lassen, hatten selbst noch einmal alles
überprüft und waren nun auch zu der Überzeugung gelangt, daß das Kind
verschleppt sein müsse. Sie hatten das Gesinde vernommen und lauter
offene Augen gesehen und ehrliche Antworten erhalten. Bei Fritz hatte
das Verhör einen Augenblick gestockt. Einer der Beamten hatte ihn
wiederholt gefragt, ob er nicht doch die kleine Anna gesehen habe, da
sie mit ihm zur Scheune gegangen sei, und weiter, was es mit dem
Vogelnest für eine Bewandtnis habe. Er hatte dann auf die gleichmäßig
lautenden Antworten »Ich weiß es nicht«, »Ich habe nichts gesehen«,
»Ich weiß kein Vogelnest« zornig werden wollen. Doch da hatte der Herr
selbst die Hand auf die Schulter des Knaben gelegt und ruhig gesagt:
»Er ist ein braver Junge. Er ist aufgewachsen bei mir!« So blieb als
einziger Anhaltspunkt schließlich nur der Bettler auf dem Hof, der alte
Mann mit dem roten Streifen am Hals, von dem niemand wußte, war es ein
Tuch oder eine Wunde.
Der Beamte verfaßte sein Protokoll, las es vor
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