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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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kleinen Fluß auf
der anderen Seite der Waldlichtung versenkt zu haben, während die
Pauline St. angab, das Kind an der Stelle, wo es die Rosalia
Slicha ermordet habe liegen lassen, am nächsten Tage heimlich
aufgesucht zu haben und ihm mittels eines Steckens unter einer großen
Tanne ein Grab gegraben, die Leiche mit Moos bedeckt und das Grab mit
Glockenblumen bepflanzt zu haben. Eine volle Woche wurde auf das
genaueste nach der Leiche des Kindes gesucht und geforscht, ohne daß
eine Spur zu finden war.
    Christian B. hatte während der ganzen Zeit in einem einfachen
Gasthofe gewohnt. Seine Stube im ersten Stock des Hauses war klein,
eng, grau getüncht, feucht und kalt trotz der ununterbrochen
herrschenden Glut der Sommertage. Durch das Fenster sah er auf einen
kleinen, alten Marktplatz, der von düsteren Häusern aus rotem Sandstein
umstanden war, die, angeschwärzt von Schmutz und Regen der Zeit, die
Farbe vertrockneten Blutes bekommen hatten. Der Gasthof war still, von
Fremden fast nie besucht, abends nur war die Gaststube dicht besetzt
von lärmenden Gästen, und in den späteren Stunden trieften die Tische
von vergossenem Bier und Branntwein, wenn die unsichere Hand der
Trinker das gefüllte Glas nicht mehr zum Munde heben konnte. Die Stadt
war klein, doch Christians müde Schritte kamen nie aus den engen
Straßen heraus, die mit harten, spitzen Steinen bepflastert, seinen
wandernden Fuß feindlich zurückstießen. Winzige Häuser in langen Reihen
standen immer vor seinen Blicken. Fest an die Erde gedrückt, verbargen
sie doch den Himmel. Freie Ebene, weiche gütige Erde unter seinem Fuß,
gewölbter Himmel Tag und Nacht über seinem Haupt, alles war
verschwunden. Die Arbeit der Hände, die Liebe des Herzens, Weib und
Kind, das Unglück, der Schlag Gottes, der Schmerz der Seele und die
Klarheit des Todes, die er schon nahe gefühlt, alles war versunken,
aufgezehrt von Enge, Fremde, Verwirrung, von dem trügerischen Schein
der Wirklichkeit, von dem höhnischen Angesicht der Tatsachen. Er fuhr
mit den Polizisten umher, war bei den Verhören der Zigeuner dabei,
immer wieder breitete er die kleine Taille des Kleides aus, zeigte die
Bilder des Kindes vor, richtete Fragen an die Zeugen, machte ihnen die
Bewegungen des Kindes, wie es den Kopf zurückwarf, wie es lachte, wie
es tanzend ging, mit seinem erbleichten Haupt, mit seiner erloschenen
Stimme und seinen schweren, müden Schritten vor. Abends ging er in die
Gaststube, die heiß und von Tabaksrauch durchwölkt war, setzte sich zu
den fremden, lärmenden Menschen. Er, der sonst so Stumme, sprach mit
ihnen, kritisierte den Gang der Verhandlungen, beschimpfte die
Behörden, nannte den »Fall B.« den Prüfstein eines
Rechtsstaates, ein Ereignis, ebenso wichtig wie Sieg und Einzug in
Paris. Er lebte mehr als wie im Traum, er lebte während dieser Zeit nur
noch im Rausch. Er trank vom frühen Morgen an. Im Rausch glaubte er,
handelte er, konnte er sich noch erinnern, im Rausch baute er sich auf
den leeren, nur noch Gott und dem Tod bereiten Raum seiner Seele
nochmals auf: sein Heim, Gut und Geld, Weib und Kinder, Unglück und
Strafe, Recht und Rache, Ordnung und Hoffnung. Sein Gesicht war
gerötet, jugendlich begann es zu leuchten unter den weißen Haaren, die
schweren Lider waren aufgehoben von dem betäubten Blick der Augen, die
matt funkelten unter den Strömen des berauschten Blutes. Nur seine
Stirn blieb unberührt von Rausch und Verwirrung, immer klarer, fast
leuchtend stand sie unter den wirren weißen Haaren über den
rauschglitzernden Augen, ein Zeichen des Wachenden über dem Träumenden.
    Am Wirtshaustisch, tief im Rausch, die halbgeleerte Flasche
vor sich, schrieb er mit klarer, sauberer Schrift seinem Notar um Geld,
berichtete dem Wirtschafter Blank, daß wahrscheinlich eine
Kriminalkommission nach Treuen käme, er solle deren Führung übernehmen
und die Aussagen des Gesindes überwachen, befahl ihm, mit dem Schnitt
des Roggens zu beginnen und denselben in Scheune vier, Fach zehn
einzuscheuern. An Frau und Kinder schrieb er kein Wort. Er verlangte
neuen Schnaps. Weich und schnell klopfte sein Herz, leicht, doch ohne
zu zittern, bewegten sich seine Hände. Seine Zähne in dem offen
atmenden Mund schimmerten durch seinen verwirrten Bart hindurch, und
seine Augen glänzten entblößt von ihren Lidern aus dem geröteten
Gesicht. Nur seine Stirn war bleich und kühl, unter den weißen Haaren

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