Das verlorene Kind
einmal, alles vergessend, mit Lachen auf den jungen
dunklen Gesichtern zu Tische kamen. An den Mann dachte die Frau Tag und
Nacht. Sie arbeitete nichts mehr. Seit er fortgefahren war, wartete sie
auf ihn. Schon morgens kleidete sie sich in helle, hübsche Kleider,
kämmte lange und sorgsam ihr dichtes, dunkles Haar, das mit lichterem
Schimmer, wie der silberne Spiegel eines dunklen Wassers ihren Kopf
umschmiegte. Ihre Gestalt, die früher in einer weichen Fülle ihre
Mütterlichkeit verraten hatte, wurde schlanker. Mit Entzücken nähte sie
sich breite Falten in ihre Taillen ein. Ihre Hände wurden weich und
weiß, sie rieb sie unaufhörlich mit tiefem Wohlgefühl aneinander, wenn
sie stundenlang in Träume versunken an dem Fenster des Schlafzimmers
saß. Rief man sie in solchen Augenblicken an, dann schossen aus
schwarzen, weitgeöffneten, unbeweglich starrenden Augen jene wilden
Blicke, vor denen alle erschraken. Gewöhnlich stand sie dann auf und
eilte aus dem Haus, schnell mit stürmenden Schritten am Rande der
Felder verschwindend. Erst am Abend kam sie, heimlich, ohne von jemand
bemerkt zu werden, zurück, und Emma fand sie dann im Bett, das Gesicht
in die Kissen vergraben, in tiefem Schlafe.
An den Sonntagen kam Klara, Christians Schwester, zum Besuch.
An diesen Tagen schien die Frau zu neuem Leben zu erwachen. Ihr Gesicht
war dann gerötet, ihr Mund wie früher leicht und froh geöffnet. Wären
die tiefen Runzeln ihrer Stirn über den glühenden, schwarzen Augen
nicht gewesen, wäre sie jung erschienen wie ein Mädchen. An den Tagen,
wo sie Klaras Besuch erwartete, ging sie in die Küche, sprach mit Emma
und kümmerte sich um das Essen. Hörte sie dann den Wagen in den Hof
einfahren, eilte sie hinaus, und kaum hatte Klara den Boden betreten,
warf sie sich in ihre Arme, hielt sie lange und fest umschlungen, ihre
Brust innig an die Brust der Schwägerin pressend. »Komm!« sagte sie
heiser und eilig, »komm mit zu mir!« Und sie zog sie mit sich in das
Schlafzimmer, neben sich auf die Truhe, die am Fenster stand. Dort ließ
sie Klara sprechen und fragen, antwortete ihr aber nicht. Unablässig
ruhte ihr Blick auf dem Antlitz Klaras, das so deutlich die Züge ihres
Mannes trug. Sie erkannte seinen schweren Blick in ihren blauen Augen
wieder, seinen schmalen ernsten Mund, sein lichtes Haar. Das Gesicht,
die Gestalt der Schwägerin erinnerte sie an die Zeit des Glückes, nach
der sie, die Trauer und Verzweiflung nicht fassen konnte, sich
zurücksehnte. Sie umschmeichelte Klara, ließ sich von ihr trösten und
beruhigen. Wie ein Kind schmiegte sie sich an sie. Wenn Klara gehen
wollte, barg sie den Kopf an ihre Brust, und da Worte oder Tränen ihr
nicht kamen, schlang sie bittend die Arme fest um ihren Hals und küßte
sie auf den Mund.
Als die Heimkehr des Mannes sich verzögerte und Martha keine
Zeile von ihm erhielt, wollte sie aus dem Haus entfliehen. »Nimm mich
mit zu dir, dort will ich auf Christian warten!« bat sie kindlich die
Schwägerin.
»Nein,« sagte Klara zwischen Rührung und Strenge kämpfend, »du
bist eine schlechte Frau. Um nichts kümmerst du dich. Es sind doch
Christians Kinder und sein Haus.«
»Nimm mich mit!« bat Martha noch einmal leise.
»Nein, es geht nicht!« sagte Klara jetzt kurz und verließ sie,
um mit Emma, dem Wirtschafter und den Kindern zu sprechen. Als sie nach
einer Stunde wieder nach Martha sehen wollte, war diese verschwunden,
im Hause nicht zu finden. Am Abend aber, als Klara zurückfuhr und aus
dem Forst auf die Landstraße einbog, kauerte auf einem weißen
Meilenstein in der kühlen Herbstdämmerung Martha und rief sie leise an.
Sie nahm nun die Frau mit sich und ließ sie auf ihre flehenden Bitten
in ihrem Haus.
Dort war Martha glücklich. Dieses Haus war für sie erfüllt von
den seligsten Erinnerungen. Vor seinem weiten, mächtigen Portal hatte
Christian sie mit starken Armen aus dem Schlitten gehoben, sie hoch in
der Luft gehalten, als wäre sie eine Feder. Als Fremde, als Waise, als
arme dienende Magd hatte er sie sich erwählt zur Frau, und wie gut war
alles geworden. Sie wollte wieder hier warten auf den Mann, daß er sie
hole, wie damals als Braut, in das neuerrichtete, hochzeitliche Heim.
Denn ihr Haus, das sie eben verlassen hatte, erschien ihr aus der Ferne
unbekannt, befreit von Unglück und Sorgen, ein Heim kommenden Glückes.
Als die Nachrichten von dem Prozeß einliefen, aus denen zu
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