Das verlorene Kind
Belohnung. Er setzte zweitausend Taler aus, und für das Auffinden der
Leiche eine solche von tausend Talern. Täglich liefen aus den
verschiedensten Gegenden Meldungen ein, daß das Kind gesehen worden
sei. Alle Spuren wurden auf das genaueste verfolgt. Unaufhörlich reiste
der Vater von Ort zu Ort, um bald hier, bald dort aufgefundene Kinder,
die seiner Tochter ähnlich sehen sollten, zu rekognoszieren. Neunzig
Personen wurden nach und nach verhaftet und monatelang festgehalten.
Blieben schon die Verfolgungen aller dieser Spuren ergebnislos, so fiel
überhaupt der ganze, mit so ungeheurem Opfer an Geld, Eifer und Fleiß
geführte Prozeß endlich zusammen, als Mitte November in einem
ungarischen Dorf der vermißte Nikolaus aufgefunden und ausgeliefert
wurde. Es war ein durch Trunksucht völlig zerrütteter Mensch, starrend
vor Schmutz und Ungeziefer, von dem sogar sein grauer struppiger Bart
wimmelte, und hatte eine eiternde Wunde am Hals. Er sprach nur
stammelnd, aber bereitwillig und freundlich. Es wurde ihm der ganze
Gang der Verhandlung und der Inhalt der Protokolle erzählt, er schien
auch alles vollständig zu begreifen, erklärte aber, nie ein Kind mit
sich genommen zu haben, und fügte mit rauher Stimme, aber gutmütig
lächelnd hinzu: »Bin kein Väterchen!« Er konnte auch ziemlich genau die
Orte, an denen er sich aufgehalten, angeben und verschaffte sich ein
sicheres Alibi. Als er der Zigeunerbande Slicha vorgestellt wurde, die
ihn auch sofort anerkannte, fiel er dem taubstummen Zwerg um den Hals,
und beide umarmten und küßten sich und machten in einer Zeichensprache
höhnische Grimassen gegen die übrigen Mitglieder der Truppe.
Am 20. November wurden die Akten über die Verhandlungen
geschlossen. Als feststehend und erwiesen wurde immer noch angenommen,
daß bei der Zigeunerbande Slicha laut Zeugen in den verschiedenen Orten
in der Zeit vom 1. bis 8. Juli ein blondes Kind im Alter von
vier Jahren vorhanden war, welches in der Zeit von 6 bis
10 Uhr abends am 8. Juli spurlos verschwunden ist
Der Richter, der mit übermenschlichen Kräften die
Untersuchungen und Verhöre geleitet hatte, brach schwer erkrankt
zusammen.
Am 23. November reiste auch der Vater Christian B.
wieder heim. Er hatte die Nacht wachend und trinkend verbracht,
berauscht trat er im Morgengrauen die Reise an. In der Bahn schlief er.
Er kam nachts in S. an, wo der Wirtschafter mit dem Schlitten auf ihn
wartete. Kein Wort wurde gesprochen. Sie fuhren über den ersten Schnee
und Frost nach Treuen. Langsam wich Christians Rausch. Er erkannte die
Wege, seine Felder, seine Erde, die jetzt im Winter wieder heller
schimmerte als der dunkle Himmel, der Himmel über seinem Leben. Im Hofe
hielten sie. Christian trat schnell in seine Stube ein, schloß fest die
Tür hinter sich zu und antwortete auf Rufen und Klopfen nicht. Im
Dunkeln sah er den Raum, die Möbel, durchs Fenster schimmerte es weiß,
doch kein Licht, nur Schein von Schnee, und während er in tiefen Zügen
die letzte Spur des Rausches aus seiner Brust atmete, erinnerte er sich
plötzlich der Erscheinung seines Kindes, wie er es erblickt hatte,
durch das Fenster des vorbeirollenden Eisenbahnwagens, wie es in der
Luft schwebte, in der Dämmerung der Sommernacht von Fackelschein und
Musik umbraust. Er tastete sich zum Fenster und sank in die Knie. Er
schloß die Augen und ruhte. Er lächelte.
Über Rausch und verwirrenden Traum der letzten Wochen fühlte
er den Frieden der Verzweiflung und die Klarheit, die nur im Tode noch
war, wieder einziehen in seine Seele.
IV
Ganz allein für sich in einem engen Wahn von zukünftigem Glück
hatte während dieser Zeit Martha, die Frau, gelebt. Sie war so hilflos
unter den Schlägen des Unglückes, daß sie mehr als alle anderen, daß
sie sich selbst verlor. Das unabwendbar Traurige, Harte und Grausame
ihres Schicksals verwandelte ihr Herz. Sie haßte die Kinder, ja selbst
das verlorene, bis tief in die Erinnerung an das namenlose Glück, das
es ihr bereitet hatte, bis zur Stunde selbst zurück, da sie glaubte, es
empfangen zu haben. Die Söhne wollte sie nicht sehen. Ihnen reichte
Emma Nahrung und Kleidung, richtete ihr Lager für den Schlaf, bestimmte
die Arbeit für ihre jungen Kräfte und schenkte ihnen die Liebkosungen
für ihre verwaisten Herzen, aber sie konnte sie nicht schützen vor dem
bösen, funkelnden Blick der eigenen Mutter, den diese auf die Söhne
warf, wenn sie
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