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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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tropften Schweißperlen langsam über sie hin, sammelten sich in den
dichten Augenbrauen zu kleinen Bächen, die dann schnell das rote
Gesicht entlang liefen und im Halse verrannen. Es war, als weine seine
Stirn, indessen sein Mund im Rausche lächelnd geöffnet war. Er ergriff
einen neuen Bogen Papier, und mit feinen, festen Linien und Punkten
zeichnete er einen Plan der Domäne Treuen mit Haus, Hof, Ställen und
Scheunen, Brunnen, Teichen, Gärten, Feldern, Wiesen, mit der Landstraße
und dem Forst auf. Wieder trank er, und noch tiefer versinkend in
Rausch, entwarf er neue Plakate mit der Bekanntmachung und erhöhte die
Summe der Belohnung auf tausend Taler. Es war zwei Uhr nachts. Er war
allein im Gastzimmer. Er erhob sich, nahm die Papiere und ging
aufrecht, doch mit bleischweren Füßen die Treppe empor in sein Zimmer
und warf sich in den Kleidern über das Bett. Er schlief ein. Er
träumte, er sah das Zimmer vor sich, er lag im Bett gegenüber der Tür,
die Tür aber öffnete sich, von draußen fiel mattes Licht herein, und im
Halbdunkel erschien ein Kind, ein Knabe, bleichen Angesichts, mit
langen, weißen Locken, mit traurig verkrümmtem Mund und gesenkten
Augen, und schritt langsam auf ihn zu. Mit einem gewaltig aus dem
Herzen aufspringenden Gefühl von Liebe und Schmerz zugleich erkannte er
sich selbst in der Erscheinung. Das Kind stand still vor ihm, und als
er eben noch in seinem Gesicht forschen wollte, versank es plötzlich in
sich selbst, verwehte, und am Boden lag an der Stelle, wo es gestanden
hatte, ein kleiner Haufen Schnee, aus dem ein schmaler, weißer
Lichtstreifen aufstieg und mit eisiger Kälte ihm ins Gesicht strahlte.
Er erwachte, die Hände vor das Gesicht gehalten. Er blickte um sich, es
war völlige, schwarze Finsternis um ihn, durch dichte Vorhänge waren
die Fenster verhangen. Aber in der Finsternis wehte noch der eisige
Hauch des Lichtstrahles im Traum. Er sprang aus dem Bett und zur Tür
und öffnete sie schnell. Vom Korridor kam matter Schein einer Lampe und
schwüle, dunstige Glut der Sommernacht herein. Auf dem Boden lagen die
Papiere, die er mit Schrift und Zeichen bedeckt hatte, und schimmerten
weiß. Er hob sie auf und verbarg sie zwischen den Kleidern, die er nun
ablegte, und schlief dann bis zum nächsten Mittag. Er ließ sich nie
mehr unberauscht, denn dann war ihm alles klar, logisch und
begreiflich. Er wohnte täglich den Gerichtsverhandlungen bei, feuerte
die Kommissäre an, verhandelte mit Agenten und Spionen, unterhielt sich
mit den Redakteuren der Zeitungen, machte Reisen, wenn es galt, eine
neue Spur des Kindes zu verfolgen. An die Heimkehr dachte er nicht. Er
erhielt die Briefe seines Wirtschafters und die seiner Schwester. Nur
selten gab er einen Bescheid oder einen Befehl an den Wirtschafter
zurück, an Frau und Schwester aber schrieb er niemals.
    Die Anklage auf Mord brach zusammen. Trotz wiederholten,
genauesten Forschens konnten keine Spuren einer Leiche gefunden werden,
dagegen liefen neue Meldungen ein, nach denen das Kind wieder gesehen
worden war. Das Gericht gelangte nun zu der Annahme, daß das Kind von
dem fehlenden Mitglied der Zigeunerbande, dem alten Nikolaus,
fortgebracht und entweder nachträglich ermordet oder über die Grenze
geschafft worden sei. Nun setzte eine zweite, im Eifer auf das höchste
gesteigerte Jagd nach dem Kinde ein. Aufgefordert von der Justiz,
griffen in weitestem Maße Polizei und die gesamte innere Verwaltung des
Landes helfend ein. Das Ministerium des Innern entsandte besondere
Polizeibeamte, gab die Spalten sämtlicher Regierungsblätter zu den
umfangreichsten Publikationen frei, sogar eine allgemeine
Landesvisitation wurde in Erwägung gezogen und nur wegen deren
Unzweckmäßigkeit unterlassen. Statt dessen erging an sämtliche Landräte
und Amtshauptleute des Reiches eine dringliche Mahnung zur äußersten
Aufmerksamkeit.
    Eine ähnliche Verfügung wurde auf Anregung eines anonymen
Einsenders von Seiten des Generalpostamtes an sämtliche Landbriefträger
erlassen.
    Das auswärtige Ministerium setzte sich jetzt mit den
Regierungen der übrigen deutschen Staaten und denen der angrenzenden
Länder in Verbindung und erhielt nicht nur bereitwilligste Zusage der
Hilfe, sondern diese Regierungen ergriffen auch in der Tat energische
Maßnahmen gegen Vagabunden, bei denen man das verlorene Kind vermuten
durfte.
    Zum dritten Male erhöhte der Vater Christian B. die

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