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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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Eises. Drei Tage und Nächte hatte im
November der Sturm geweht, die Bäume kahl gefegt, den Himmel mit Wolken
überzogen. Nun war schon lange alles still, die Luft klar in der Kälte,
und im rötlichen Schein der Wintersonne schwebte sie über den Feldern
wie Schleier aus zartem Gold, umschmiegt von dem weichen, dunklen Blau
des Horizontes. In den Nächten des Neumondes überzogen Wolken den
Himmel, und es schneite von neuem. Die vollkommene Ruhe über der Natur
war Trauer und Fest, Leben und Tod zugleich. Es schwieg der Lärm des
Lebens, des Wachsens, der Geburt, und es sprach die Stille des Todes,
seine erlösende Verheißung in der Nacht.
    Allabendlich ging Christian B. in die Dunkelheit der
Winternächte hinein, in denen der Himmel finster war, die Erde aber,
das Grab, weiß leuchtete. In die Dunkelheit des Himmels waren ihm
entschwebt die Liebe seines Herzens, die Arbeit seiner Hände, Glück und
Leben, kalt umleuchtete ihn von unten her die Gewißheit des Todes.
Zwischen beiden stand das Unglück, Gottes verhülltes Angesicht. In ihm
war der Friede der vollkommenen Verzweiflung. Er hoffte, am Ende zu
sein, nur noch die Kraft seines Körpers langsam ausrinnen zu fühlen in
den Lauf seiner müden Tage, und dann, wenn endlich der letzte
Augenblick gekommen, wenn der letzte Herzschlag verhallt war, vor sein
Ohr das große Schweigen trat, vor sein Auge die tiefste Dunkelheit,
dann noch Gott zu erkennen, sein Wort, seinen Willen, seine Klarheit
und seine unendliche Güte. Sein Kind aber erschien ihm jetzt als Engel.
Nicht tot, nicht lebend, weilte es zwischen Himmel und Erde und führte
ihn den schweren Weg.
    Aber das Ende war ferner denn je. Es war zu Beginn der zweiten
Dezemberwoche, als Christian gegen neun Uhr abends, aus den Feldern auf
den Wald zuschreitend, seiner Frau begegnete. Mit eilenden und in der
Eile schwankenden Schritten kam ihm ihre dunkle Gestalt auf der weißen
Erde entgegen. In der mondlosen Nacht konnten sie sich mit dem Auge
nicht erkennen, aber sie fühlten einander, strebten einander entgegen.
Wortlos zusammenbrechend, fiel Martha in seine Arme. Er trug sie nach
Hause.
    Sie war erkrankt Im Fieberrausch, halb nur bekleidet, war sie
aus dem Bett geflohen, hatte es sie den lange gefürchteten Weg
zurückgetrieben. Christian trug sie über die Treppe in die kalte,
verwaiste Schlafstube und legte sie nieder, in ihr Bett. Er weckte
Emma, die Feuer machte, der Frau die Kleider von dem furchtbar
abgezehrten Leib abzog, heimlich und schnell die Hände der Herrin unter
Freudentränen küssend. Sie machte Wasser warm und wusch ihr die Füße,
die schmutzig unter dem Hemd hervorsahen. Sie hüllte die von Frost und
Fieber geschüttelte Frau in wollene Tücher, flößte ihr heiße Milch mit
Honig ein. Die Frau lächelte. Im Schein der Kerze sah ihr
fieberglühendes Gesicht wie das Antlitz eines Kindes aus. Der Mann saß
neben ihr am Bett, und sie hielt seine Hand fest umklammert. Im Fieber
träumte sie, sie läge in Schmerzen vor der Geburt eines Kindes. »Du
darfst noch bleiben,« flüsterte sie und drückte seine Hand, »die
Schmerzen sind noch in der Brust, noch nicht im Leib. Bis zum Abend
darfst du noch bleiben, ich fühle es ganz genau. Du hast lange
gewartet, aber ich habe dich in die Arme genommen. Ich habe dich immer
in die Arme genommen, und wir haben Söhne gehabt Doch jetzt bekommst du
eine Tochter, und wir werden glücklich sein wie noch nie. Du bekommst
eine helle Tochter von deiner schwarzen Frau. Sie heißt Anna. Durch
mich geht das Kind hindurch, und dann geht es fort Aber wir brauchen
nicht unglücklich zu sein, denn jetzt kommt unsere Tochter, und dann
werden wir nie mehr ein Kind haben, wir haben dann alles Glück. Wenn du
zu mir kommst, haben wir immer Glück, du darfst nicht fortgehen, jetzt
kommen die Schmerzen, aber das Kind, unsere Tochter –« und sie
stöhnte, schrie leise, bäumte sich auf, wie unter furchtbaren Wehen,
dazwischen rief sie mit zärtlichen Namen den Mann und das neugeborene
Kind.
    Still saß Christian neben ihr und hielt ihre Hand. Gegen sechs
Uhr morgens erlosch die Kerze, weißer Schein schwebte vor den Fenstern,
neuer Schnee fiel. Die Tiere riefen aus den Ställen, in der Küche erhob
sich der Lärm des Tages. Langsam dämmerte es. Plötzlich erklang
Pferdegetrappel im Hof, und nach einer Weile trat Emma behutsam ein und
brachte ein Telegramm. Die Frau schlief endlich tief und erschöpft.
Zart

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