Das verlorene Kind
hatte. Das Haus sah sie nun, wie es wirklich war, von Glück
verlassen, das Bett des Kindes leer, sie selbst Abend für Abend einsam
auf dem Lager, die sehnende Brust gegen die Kissen gedrückt, das
Gesicht vergraben, den Leib erstickt, und alle Tage und alle Stunden
vom Unglück umgeistert. Sie sank zu Boden, und zum erstenmal in dieser
ganzen Zeit weinte sie, schrie, wälzte sich in Tränen am Boden hin und
her. Sie wehrte sich aus allen Kräften, mit Klara nach Treuen zu
kommen, um den Mann zu sehen.
Klara blickte sie stumm an, »sie ist eine Fremde,« dachte sie,
»sie war sein Unglück«. Sie ließ anspannen und fuhr allein. Als sie
abends um neun Uhr in Treuen ankam, fand sie alles schon dunkel. Emma
kam auf ihr Klopfen herbei und sagte ihr, daß der Herr wohl angekommen
sei, sich aber sofort in dem Wohnzimmer eingeschlossen habe. Klara
klopfte an die Tür und rief seinen Namen, doch er antwortete nicht. Sie
ging hinauf in das Schlafzimmer und wollte sich in Marthas Bett
schlafen legen. Als sie im Schein der Kerze die drei verwaisten Betten,
das des Bruders, das der Frau und zu Füßen dieser beiden das des Kindes
erblickte, erschien ihr das Unglück so groß, daß sie es nicht mehr
fassen konnte. Die weiche Traurigkeit ihres Herzens erstarrte, ihre
Klage verstummte, und die Tränen, die aufstiegen, lösten sich nicht
mehr von ihren Augen. Sie hielt die Hände gefaltet, doch beten konnte
auch sie nicht mehr. »Wofür soll ich beten?« dachte sie. »Das Kind ist
vielleicht nicht tot, aber es ist alles viel schlimmer.« Sie wagte sich
nicht in das Bett zu legen, sondern durchwachte die Nacht, auf der
Truhe am Fenster sitzend.
Am Morgen begegneten sich dann alle beim Frühstück in der
Küche. Der Herr trat schnell ein. Bruder und Schwester reichten sich
die Hände.
Er war furchtbar verändert. Sein festes und bisher so streng
verschlossenes Gesicht war aufgedunsen, die Züge verschwommen,
aufgelöst in weiche, schlaffe Falten, die Farbe war fahl, an den Wangen
nur von einem gelblichen Rot, das sich in kleinen Flecken dort
gesammelt hatte. Sein Bart hing lang und wirr um den Mund, der, jetzt
viel geöffnet, zu lächeln schien und oft lautlos sich bewegte. Den
Nacken hielt er gesenkt, seine Brust schien schmäler geworden zu sein,
bedrückt von den herabsinkenden Schultern. Seine Hände zitterten
leicht, sobald sie ruhten, sein Schritt war langsam und doch von einer
seltsamen Leichtigkeit. Die Augen waren meist gesenkt. Schlug er die
schweren Lider zurück, ruhte der Blick trübe und verschleiert in die
Ferne gerichtet. Doch licht und klar war seine hohe, breite Stirn unter
dem verblichenen, lang und wirr verwachsenen Haar.
Er sprach nichts, und sein Schweigen war so gebietend, daß
niemand zu fragen wagte. Eine vollkommene Ruhe ging von ihm aus.
Die Söhne kamen herein. Beide waren gewachsen in der Zeit, und
der Jüngere war dem Älteren nun völlig gleich an Größe. Ihre Gestalten
ähnelten schon sehr der des Vaters, nur die feinen, kleinen Köpfe mit
dunklem Haar und dunklen Augen erinnerten an die Mutter. Sie kamen mit
verlegenen Schritten näher und wagten nicht, den Vater anzusehen. Er
packte jeden von ihnen an den Schultern und preßte ihn einen Augenblick
lang gegen seine Brust. Dann drückte er Emma die Hand, die
aufschluchzte bei dieser Berührung, und nickte den anderen grüßend zu.
Man begann das Mahl. Am Platze Marthas saß Klara. Er fragte nichts.
Nach dem schnell beendeten Essen, als die Küche wieder leer war, begann
Klara leise: »Martha ist bei uns. Ich glaube, sie ist krank. Sie ist
sonderbar, Christian, sie will nicht hierher.«
»Laß sie nur,« sagte er langsam und auch leise, »das ist gut.«
»Und die Wirtschaft, die Kinder?«
»Die Kinder sollen auch fort.«
»Nein, Christian, die nicht.«
»Doch; wenn sie wollen, kommen sie schon wieder.«
Beide schwiegen jetzt. Dann fragte Klara: »Und Anna?«
Der Bruder hob nur die Hand, hielt sie in der Luft, wo sie
leise zitterte, und ließ sie dann schwer wieder auf den Tisch fallen.
Klara sah ihn an, sein verändertes, aufgelöstes Gesicht gebot
ihr, zu schweigen.
»Du hast kein Geld im Hause«, begann sie nach einer langen
Weile wieder.
»Geld gibt es genug, ich kann ja verkaufen.«
»Ist es schon so weit?«
»Vielleicht«, sagte Christian. Dann, den schweren Blick auf
der Schwester helles Haar richtend, fragte er plötzlich: »Wie waren
eigentlich unsere Eltern?«
Erstaunt
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