Das verlorene Kind
werden muß. Du kannst mich überall begraben
lassen, wo ich auch sterben sollte. Wenn du dann allein sein solltest,
wende dich immer an die Polizeibehörde um Schutz für die Heimreise.«
Der junge Sohn nickte und lächelte. Seit sie im Zuge saßen und
fuhren, strahlte sein Gesicht vor Freude.
»Wir werden ja die Schwester wiederfinden«, sagte er leise.
»Vielleicht werden wir sie finden«, sagte der Vater.
Sie reisten bis Mitternacht, übernachteten auf einem Bahnhof
und fuhren im Morgengrauen nach Osten weiter. Der Zug war stark
gefüllt, an den vielen Stationen wechselten unaufhörlich die Fahrgäste,
und Karl wurde nicht müde, die vielen fremden Menschen anzusehen und
auf ihre Reden zu hören. Der Vater saß starr da, schlug die gesenkten
Lider nicht auf, und seine Hände lagen unbeweglich auf seinen Knien. Am
Nachmittag wechselten sie die Strecke und stiegen in einen anderen Zug
ein. Hier waren sie fast allein im Abteil, aber es wehte fremde Luft,
zwei Männer saßen ihnen gegenüber, in langen, schwarzen Röcken, mit
schwarzen Haaren und scharfblickenden schwarzen Augen in bleichen
Gesichtern. Sie sprachen leise in fremder Sprache miteinander. Der Sohn
begann sich vor ihnen zu fürchten und wagte kaum zu essen, als ihm der
Vater von ihrem Proviant reichte.
»Warum sprechen die Leute so? Ich kann sie nicht verstehen«,
fragte er leise den Vater.
»Wir fahren in ein fremdes Land, da sprechen alle so«,
antwortete er.
»Warum sprechen die Menschen nicht überall gleich? Ich kann
sie nicht verstehen, und sie werden mich auch nicht verstehen«, klagte
der Sohn.
»Für viele Dinge gibt es keine Antwort in der Welt«, sagte der
Vater und strich dem Knaben über den dunklen Kopf. Beruhigt durch diese
Liebkosung schlief er ein, und der Vater konnte ihn später nur schwer
wecken. Sie waren in der großen Stadt, der letzten Station vor der
Grenze, angekommen. Der Sohn war ganz betäubt und verwirrt, als sie den
großen Bahnhof entlanggingen, in dem die schwarzen, schweren Züge still
und ruhig nebeneinander auf den Gleisen standen, wo so viele Menschen
liefen, lärmten und schrien, blendende Lichter brannten, alles mitten
in tiefster Nacht. Sie trieben mit der Menge der anderen Reisenden dem
Ausgang zu. Plötzlich stieß der Knabe einen lauten, freudigen Ruf aus,
so daß alle sich nach ihm hinwandten. In der Eingangshalle des
Bahnhofes, die sie eben verlassen wollten, hatte er neben einer großen
Eisenbahnkarte das Plakat mit dem Bildnis der Schwester entdeckt.
»Da ist die Schwester, das ist sie!« jubelte er und eilte zu
dem Bilde hin. »Da ist sie ja, da ist sie,« stammelte er, zitternd vor
Aufregung und mit Tränen des Glückes in den Augen. Die Erinnerung an
die Schwester, die verknüpft war mit der glücklichen Zeit seiner
Jugend, entfachte einen Sturm der Freude in seinem Herzen, den seligen
Kinderglauben, daß nun alles wieder gut sei, weil er das Bild der
Schwester, der schon vergessenen, hier in diesem großen, unheimlichen,
fremden Haus, in der fremden Stadt wiedersah. »Da ist ja unsere Anna!«
sagte er noch einmal zu dem Vater, der neben ihn getreten war, und
beide versenkten sich in die Züge des Gesichtchens, das ihnen
entgegenlächelte. Diesmal betrachtete es der Vater genau, Spur für
Spur, ohne Frage, ohne Hoffnung, ohne Trauer, das Herz in Ruhe. Und
doch war es ihm, als begönne das Bild zu leben, die Lider senkten sich
über die Augen und hoben sich wieder über einem verwandelten, strengen
Blick, das Lächeln des kleinen Mundes schien sich in Weinen zu
verziehen, mit dem weisend erhobenen Händchen schien es zu drohen. Der
Vater wich vor dem Bild zurück. Wenn das Kind doch noch lebte? Wo war
sein Herz? Wo die Liebe für sein Kind, wenn er es wiederfand? Er hatte
sich in die Einsamkeit des Todes gerettet, aber um ihn verdarben alle
die, die sein Herz erwählt, seine Liebe gezeugt hatte. Traurigkeit und
Scham überfielen ihn. Er berührte den Sohn sanft an der Schulter.
»Komm, nun wollen wir die Schwester finden«, sagte er.
Vater und Sohn gingen in die Stadt, deren hohe Häuser und
lange, gepflasterte Straßen, die statt mit weißem, leuchtendem Schnee
mit grauem Schmutz bedeckt waren, den Knaben von neuem erschreckten.
Sie nahmen Quartier in einem einfachen Gasthaus, und während der Sohn
bis tief in den Mittag schlief, wanderte der Vater durch die Straßen,
ließ sich auf dem Rathaus, wo man über seine Angelegenheit schon
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