Das verlorene Kind
machte sich Christian frei von ihrer Hand und las die Depesche:
»Unzweifelhaft Anna B. lebend gefunden, ist in Obhut bei
deutschem Lehrer Röder in Kr. im russischen Polen.«
Schwer wandte er den Blick von diesen Worten weg auf das
Gesicht der schlafenden Frau. Es war gerötet, jugendlich, überbreitet
von einem zarten Lächeln. Die Schultern und der Beginn ihrer Brust
waren entblößt. Christian sah die sanften Hügel an, die sich im Atem
hoben und senkten. Er fühlte plötzlich Entsetzen über sich selbst, über
sein vereistes, allzu stilles Herz. Im Glück, in der guten Zeit, hatte
er gern mit den anderen gelebt, die Freuden mit allen geteilt. Im
Unglück hatte er sie allzu schnell verlassen, hatte allzusehr nur dem
eigenen Schmerz gelebt. Nie mehr würde er ein Kind zeugen, aber um der
Frau willen, die träumte, daß sie gebäre, wollte er noch einmal
ausziehen, gegen die eigene Verzweiflung kämpfen und noch einmal suchen
nach dem verlorenen Kind. Er nahm die Decke und hüllte die Frau sorgsam
ein. Sie erwachte nicht.
Er verließ das Zimmer, ließ sofort anspannen und fuhr in die
kleine Stadt. In einer Regung seines neuerwachten väterlichen Gewissens
beschloß er während der Fahrt, seinen ältesten Sohn mit auf die Reise
zu nehmen. Er schickte den Wagen mit einem Arzt für die Frau zurück und
begann sofort mit den Vorbereitungen. Da seine Person und der Zweck
seiner Reise allgemein bekannt waren, kamen ihm alle Behörden äußerst
entgegen. Die Pässe wurden ihm für den nächsten Tag schon
bereitgehalten, und mit Hilfe des Postmeisters wurde sein Reiseweg an
Hand großer Karten und Pläne festgestellt. In zwei Tagen konnte
Christian bis zur letzten Eisenbahnstation gelangen, von wo es dann
noch eine Tagereise bis zum eigentlichen Grenzübertritt sein würde. Von
da sollte eine große Poststraße, wegen eines vorgelagerten Gebirges
allerdings in weitem Bogen, zu der kleinen, russischen Stadt führen,
die das Ziel war. Es mußten also vier bis fünf Reisetage im günstigsten
Falle angenommen werden, und die Kosten beliefen sich nach der Meinung
des Postmeisters auf sechzig Taler. Christian beschloß, am übernächsten
Morgen zu reisen, und die Polizeibehörde signalisierte seine Ankunft an
die in Frage kommenden ausländischen Behörden, so daß er überall auf
Rat und Hilfe rechnen durfte.
Christian übernachtete in der Stadt. Da seine Barmittel schon
sehr erschöpft waren, mußte er sich am folgenden Tage noch bemühen, auf
die diesjährige Ernte Geld aufzunehmen. Spät am Abend klopfte er noch
an verschiedenen Läden an, und etwas von der alten, freudig
fürsorgenden Art lag darin, wie er für den Sohn ein Paar hohe Stiefel,
eine Joppe und einen Reisesack mit besticktem Einsatz auswählte und
kaufte.
Nachts kam er heim. Er weckte Emma, fragte nach der Frau. Sie
schlief, und der Arzt hatte nur Ruhe und Stärkung verordnet. Er übergab
der Magd die Sachen für den Sohn, den sie früh am Morgen wecken und auf
die Reise vorbereiten solle. Auch etwas Proviant für sie beide möchte
sie richten und seinen Reisesack wie immer bereitmachen. Emma machte
sofort Feuer unter dem Herd, knetete einen besonders festen Teig für
einen Kuchen, der lange frisch und feucht bleiben konnte, holte
Sauerteig aus der Vorratskammer für zwei Brote, und während der
Backofen sich erwärmte, ging sie mit der Laterne in den Hühnerstall,
ergriff zwei Tiere, schlachtete sie an Ort und Stelle ab, damit niemand
geweckt werde, und briet sie während des Backens mit. Dann salzte sie
Butter ein und umhüllte einen von dem schweren Knochen losgelösten
Schinken mit frischer Leinwand. Nach vier Uhr morgens war sie mit allem
fertig. Als sie Licht in des Herrn Zimmer sah, klopfte sie an und
verlangte den Reisesack zum Einpacken. Der Herr reichte ihn ihr hin. Er
sah ihr sanftes, gutes Gesicht, gerötet von Arbeit. »Gott lohne dir's,«
sagte er, »ich habe euch alle vergessen und nicht gut gesorgt.«
»Ach, wäre es doch schon im Himmel!« sagte Emma. Sie meinte
das Kind, sie war ganz verwirrt, daß der Herr zu ihr sprach und solche
Worte.
»Sorge dich gut um die Frau, sage ihr, es sei gute Botschaft
gekommen, und der Frau wegen sei ich gereist. Wecke Blank in einer
Stunde, er soll sofort zu mir kommen. Bleibe gesund, und habe Dank«,
und er ergriff ihre Hand und drückte sie. Sie wandte sich vor Rührung,
Freude und Schluchzen. Worte fand sie nicht. Aber heiß und vollkommen
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