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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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wahr stieg der Wunsch, ihr Leben hinzugeben für das Glück des Herrn, in
ihrem einfachen Herzen auf.
    Nach und nach erwachte das ganze Haus. Fritz war schon in den
Ställen, der Schlitten wurde herausgeschoben, der Wirtschafter kam mit
dem Herrn aus dem Wohnzimmer, alle trieben sich in der Küche umher,
teils aus Neugierde, teils weil die Küche vom Backen in der Nacht noch
so gut durchwärmt und duftend war. Eine leichte Fröhlichkeit war zu
spüren. Mit leuchtenden Augen, das sonst so scheue und bedrückte
Gesicht vor Freude und Staunen glühend, stand der junge Sohn zwischen
ihnen. Alle bewunderten seine schönen neuen Sachen, die warme Joppe mit
den Knöpfen aus Hirschgeweih, die hohen, bei jedem Schritt noch
knarrenden Stiefel und den bestickten Reisesack. Der Herr trat ein,
bereits fertig für die Reise gerüstet. Auch er schien lebhafter als
sonst, sein Gesicht war gespannt, seine Gestalt gestrafft. Er sah den
Sohn an, der erwartungsvoll zu ihm aufblickte, aber nicht näher zu
kommen wagte.
    »Nun, hast du Angst?« fragte er.
    Der Knabe schüttelte nur den Kopf, er konnte vor Aufregung
nicht sprechen. Alle lachten. Sie tranken mit Behagen die heiße
Morgensuppe, denn draußen war schöne, klare Dezemberkälte. Mancher der
jungen Burschen hätte Lust gehabt, diese Reise mitzumachen. Der Tag
dämmerte. Der Herr stand auf und schritt noch einmal über den Hof. Die
Pferde wurden eingeschirrt, das Gepäck aufgeladen. Blank, der
Wirtschafter, fuhr mit zur Stadt, er sollte in die Geldregelung
eingeweiht werden und Vollmachten erhalten. Nach und nach geriet alles
immer mehr in Aufregung, der Lärm wuchs. Fritz knallte mit seiner
Peitsche, und der Sohn bestieg als erster den Schlitten. Der Vater
zögerte. Er dachte daran, daß sie von der Frau nicht Abschied genommen
hatten. Er sah nach ihrem Fenster, nichts regte sich. Er sprang schnell
auf den Schlitten und setzte sich neben den Sohn. Emma kam
herbeigestürzt, und auf die Kufen des Schlittens sich stellend, riß sie
das Haupt des Knaben zu sich nieder, so daß seine Mütze in weitem Bogen
in den Schnee fiel, und überschwemmte sein Gesicht mit Küssen und
Tränen. Alle kamen noch heran und drückten Vater und Sohn die Hand.
    Der Knabe war sehr stolz. Nun kam auch Blank, stieg ein, und
schnell fuhr der Schlitten zum Hof hinaus.
    In diesem Augenblick ertönte im Hause vom Schlafzimmer her ein
furchtbarer Schrei der Frau. Entsetzt fand Emma sie am Boden liegend
und schreiend mit den Händen auf die Dielen schlagend. Sie war von dem
Lärm im Hof erwacht und hatte durch das Fenster in der Dämmerung den
fortfahrenden Schlitten mit dem Mann und Sohn erkannt. Man mußte sie
mit Gewalt ins Bett bringen, Tag und Nacht blieb Emma bei ihr, erzählte
ihr wieder und wieder den Bescheid, den der Herr ihr für die Frau
gegeben hatte, doch sie erhielt nie ein Zeichen, daß die Frau
verstanden hätte. Sie war in der folgenden Zeit eine böse Kranke,
quälte Emma sehr, goß heimlich die mit größter Sorgfalt bereiteten
Speisen fort, so daß Emma sich mit ihr einschloß, sie überwachte und
mit sanfter Gewalt und unermüdlicher Geduld so lange zu Essen, Schlaf
und Genesung zwang, bis die Kranke nach einigen Wochen sich doch wieder
erheben konnte.

V
    Inzwischen waren Vater und Sohn in die Stadt gekommen. Mit
großen, in den neuen Stiefeln noch unbeholfenen Schritten trabte der
Junge auf den Wegen nebenher. Zuerst gingen alle drei zum
Getreidehändler und holten das bereitgehaltene Bargeld ab. Der Vater
teilte es in drei Teile. Den einen gab er Blank, der ihn auf die
Sparkasse als Reserve für alle Fälle tragen sollte, für die beiden
anderen kaufte er zwei kleine lederne Beutelchen, an einem festen Band
um den Hals zu tragen, und füllte sie mit dem Geld, eines für sich,
eines für den Sohn.
    »Solange wir zusammen sind, brauchst du es nicht anzurühren,«
sagte er zu dem Sohn, »wenn wir durch ein Unglück getrennt werden
sollten, oder mir etwas passiert, sollst du dich nur um dich kümmern,
darum achte auf das Geld, denn das ist das Nötigste, was man braucht.«
    Am Abend, als sie im Zuge saßen, öffneten sie ihre Kleider und
halfen sich gegenseitig, das Geld unter dem Hemd auf der Brust zu
bergen.
    Immer in den Gedanken an Tod verstrickt, sagte der Vater
wieder: »Wenn mir etwas zustoßen sollte, nimm meine Papiere aus der
Brieftasche, das sind die Polizei-Ausweise, die man braucht, wenn man
im fremden Land begraben

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