Das verlorene Kind
Verunglücken des Kindes darin nicht anzunehmen. Auch
hätten ja der auf dem Dache arbeitende Dachdecker Güse und der ihm
dabei helfende Dienstjunge Fritz Schutt nichts Auffälliges bemerkt. Der
Beamte war befriedigt und ging an die Verhöre des Gesindes. Fragen und
Antworten fielen schnell und klar, alles lag offen zutage. Fritz, ohne
sich zu besinnen, ohne sich zu erinnern, trug die Antworten leicht auf
der Zunge. Der Kommissar fragte: »Du hast die Anna B. zuletzt
gesehen?«
»Ja, unten beim Teich.«
»Was hast du da gemacht?«
»Ich schnitt Weiden.«
»Was hast du mit Anna B. gesprochen?«
»Nichts. Sie wollte ein Vogelnest sehen, aber ich wußte
keines.«
»Aber sie ist mit dir vom Teich weg nach dem Hof gegangen?«
»Ich weiß nicht, ich habe schwer getragen.«
»Wo bist du hingegangen?«
»Ich bin in die Scheune gegangen und habe die Weiden
abgeladen.«
»Da hast du niemanden gesehen?«
»Ich habe niemanden gesehen.«
»Was hast du dann gemacht?«
»Ich bin zur Vesper gegangen, ich war sehr durstig vom
Weidentragen.«
»Aber du hast doch früher angegeben, daß du einen Bettler
gesehen und vom Hofe gejagt hast, und eben sagst du, du hättest
niemanden gesehen!«
»Ja, ich habe den Bettler gesehen und vom Hofe gejagt. Ich
habe gedacht, Sie meinten, ob ich die Anna B. gesehen habe.
Die habe ich nicht gesehen. Ich wollte nicht lügen.«
Der Beamte lächelte und ließ ihn gehen.
Die Ernte war nun nach und nach gänzlich beendet worden, die
Kornfrüchte waren sehr reichlich, auch das Obst gut, nur Kartoffeln und
Gemüse infolge der andauernden Hitze und Trockenheit schlecht. Auch
Vieh war eingegangen, vier Würfe junger Ferkel und ein Zug Hammel, der
auf der Weide durch dumpfiges Wasser erkrankt war. Der Wirtschafter, so
lange ohne Weisung des Herrn, fuhr in die Stadt, um auf eigene Faust
Geld einzutreiben. Er erfuhr aber, daß die meisten und größten
Zahlungen jetzt beim Notar geleistet worden waren, und dann von dem
Notar selbst, daß das Geld an den jeweiligen Aufenthalt des Herrn
abgegangen war. Im Einverständnis mit Emma versuchte er nun, den
wöchentlichen Markterlös zu steigern, und brachte, da Gemüse und
Kartoffeln nur wenig vorhanden waren und auch die Milcherzeugnisse sich
verringert hatten, große Mengen Obst, die sonst eingewintert wurden,
und viel Geflügel zum Verkauf. Er bestritt hiervon die Löhne und die
notwendigen Reparaturen und Ergänzungen an Geräten und Wagen. Ende
September kamen schwere Gewitter und brachten Regen. Nachdem die völlig
ausgetrocknete und staubende Erde durchfeuchtet war, wurde der Mist
gefahren, umgegraben und die Wintersaat beendet, auf Schlag sieben in
Scheune neun mit Ausdreschen von vorjährigem Weizen begonnen. Nach der
Kartoffelernte und vor dem Beginn des Holzfällens für den Winter, zu
Ende Oktober und Beginn November, verteilte der Wirtschafter jede Woche
einmal die drei Gewehre des Herrn, und im ersten Frost zog er mit den
Knechten und Handwerkern auf Jagd. Er selbst, der Fischer Andres und
ein älterer Knecht konnten schießen, die anderen scheuchten zu, liefen
den angeschossenen Tieren nach, suchten wie Hunde ihre Spuren und
töteten sie mit Knüppeln. Diese Jagden ersetzten ihnen die entgangenen
Freuden des Erntefestes, und viele, die während der Ernte sich im
geheimen vorgenommen hatten, zu gehen und diesen Unglückshof zu
verlassen, waren dadurch wieder gewonnen. Bei dem Verzehren der Beute,
die aus wilden Hühnern, Hasen und sogar einem Reh bestand, herrschte
große Lustigkeit und fröhlicher Lärm. Dann kam schnell Kälte, Schnee
und die Heimkehr des Herrn.
Der Wirtschafter schickte die Nachricht zu Klara hin. Als
Martha sie vernahm, schien sie vor Schreck zu erstarren. Mit einem
Schlag war sie erwacht aus ihrem Traum, ihr Widerstand war gebrochen.
Wie eine schwere Hagelwolke, die fern am Himmel sich gesammelt hat,
durch Sturm getragen, den Tag verfinsternd, plötzlich niederschlägt und
vernichtet, so stürmte jetzt das Unabänderliche, das Hoffnungslose mit
Macht in ihr verzaubertes und verträumtes Gemüt. Der Gedanke an den
Mann, den sie mit zärtlicher und heißer Sehnsucht erwartet hatte Tag
für Tag, flößte ihr nun Entsetzen ein. Sie sah sein weißhaariges,
versteinertes Gesicht mit den verhangenen Augen vor sich, sie fühlte
seine eisige, restlose Verzweiflung, sein abgewandtes ganz in das
Unfaßbare gegebenes Herz, sie fühlte seine Hand, die sie von sich
gestoßen
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