Das verlorene Kind
sagte Klara: »Das weißt du doch. Der Vater hat immer
gearbeitet und war gesund.«
»Und die Mutter?«
»Ja, die Mutter hat manchmal geweint und hat viel gebetet in
der Zeit, als du noch gar nicht geboren warst.«
Er sah die Schwester an und sagte fast zärtlich: »Als Kinder waren wir
doch glücklich, was?«
Klara nickte.
»Und jetzt sind wir bald am Ende. Ich hoffe es.«
»Denk doch an die Kinder.«
»Es wird immer an uns gedacht, im Guten oder im Bösen.«
Christian stand langsam auf.
»Soll ich hierbleiben, bei dir?« fragte die Schwester schnell.
»Nein, fahre heim, dort ist es besser als hier«, sagte er
noch, dann ließ er die Schwester stehen und ging wieder ins Wohnzimmer.
Schwer gehorchte Klara. Das Haus des geliebten Bruders war ihr
in seiner Zerstörung, seinem Unglück näher und heimatlicher als ihr
eigenes Heim, das Heim des Gatten, das so einsam geblieben war, von
Glück und Unglück gleicherweise gemieden.
Sie fand bei ihrer Rückkehr Martha in der Küche neben dem Herd
sitzend, die Hände unter der Schürze verborgen.
»Frierst du?« fragte sie.
»Ich fürchte mich.«
»Komm mit ins Wohnzimmer. Du mußt nicht hier bei den Mägden
sein.«
»Ich war auch eine Magd«, sagte Martha.
»Nein, du bist eine Frau und hast Mann und Kinder. Willst du
nicht zurück zu deinen Jungen?«
»Ich habe auch keinen Vater gehabt,« antwortete Martha, »warum
kommt Christian nicht zu mir? Ich bin noch jung genug. Sechsunddreißig
Jahre ist kein Alter. Wie alt bist du?«
»Ich? Achtundvierzig.«
»Du Arme!«
»Willst du nicht etwas arbeiten?«
»Nein. Wie sieht Christian aus? Immer noch so alt?«
»Er sieht schlecht aus. Du solltest hin und ihn pflegen.«
»Er ist nicht krank. Ich bin krank, und wenn ich in das Haus
gehe, muß ich sterben, ich fühle es genau. Ich bin aber noch zu jung.
Ich will nicht sterben. Wir müßten in ein neues Haus ziehen, Klara. Du
mußt wieder dabei helfen. Wir können dann von neuem leben, das will ich
ihm sagen, wenn er kommt. Kommt er bald?«
»Du weißt ja, er hat viel Sorgen«, erwiderte Klara, und Martha
sagte nichts darauf, stand auf und folgte ihr in das Wohnzimmer. Seit
diesem Tage begann Martha wieder zu arbeiten, und zwar konnte Klara sie
nicht davon abhalten, die niedrigsten Arbeiten zu tun, auf die sie sich
stürzte. »Ich will ruhig wieder eine Magd werden, auch in der Stadt
habe ich gedient, und Christian hat mich geholt. Wenn ich nur nicht
sterben muß«, sagte sie und fragte jeden zweiten Tag: »Kommt Christian?«
»Ich habe keine Nachricht«, sagte Klara.
Oft, in der frühen Dämmerung des November, lief sie fort, im
bloßen Kleid, die Hände unter die Schürze gesteckt, kam erst am Abend
wieder, erstarrt vor Kälte, und verkroch sich ins Bett. Mit Klara nach
Treuen zu fahren, auch nur auf einige Stunden, dazu war sie nicht zu
bewegen. »Dort darf man nicht mehr leben«, sagte sie. »Christian soll
auch fortgehen, er soll zu mir kommen.«
Doch er fragte die Schwester nie nach ihr. Wenn Klara von ihr
sprach, sagte er: »Sie hat es besser bei dir.« Und so hatte Klara nach
und nach die Kleider, Wäsche und Schuhe Marthas zu sich geschafft. In
der Truhe, die alle die Schätze der Frau geborgen hatte, blieb nichts
zurück als das schwarze schwere Seidenkleid, und auf ihm liegend, fein
zusammengefaltet, der Brautschleier. In dem Schlafzimmer wohnte nun
niemand mehr. Der Mann hauste im Wohnzimmer, das er nur zu den
Mahlzeiten verließ. Er sprach fast nichts mehr. Die Berichte des
Wirtschafters hörte er stumm an und erwiderte nur das Nötigste. Er
schrieb viel. Da der große Verbrauch an Bargeld in den letzten Monaten
seine Wirtschaft sehr erschüttert hatte, rechnete und verhandelte er
mit den Händlern. Er verkaufte Vieh bis weit über die Zahl hinaus, die
er als Zuchtherde sonst hielt, trotzdem die Zeit ungünstig war, da
infolge der guten Kornernte die Fleischpreise sanken.
Da er ständig an seinen Tod dachte und auf ihn wartete, wollte
er das Erbteil der Söhne an Bargeld unbedingt erhalten. Im Frühjahr
wollte er sie fortschicken, auf eine Schule in der Stadt oder in die
Lehre auf ein anderes Gut, weit fort, im Süden des Landes. Er trank nie
mehr, doch die ausgeweiteten, schlaffen Züge seines Gesichts füllten
sich nicht mit neuer Kraft.
Der Winter begann in derselben Pracht, in der der Sommer
geendet hatte. Leuchtend waren Tag und Nacht die weißen Felder im
Schnee, die Teiche im Kristall des
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