Das verlorene Kind
unterrichtet war, in doppelter Sprache gefertigte, ausführliche
Ausweise geben, so daß er in den wichtigsten Dingen ohne Dolmetscher
auskommen konnte. Da die reguläre Post sofort abging, er aber dem Sohn
den nötigen Schlaf nicht verkürzen mochte, bestellte er eine Extrapost
für die Nachmittagsstunden, damit sie doch bis Abend die Grenze noch
erreichen könnten. Dann kehrte er in das Gasthaus zurück, bestellte für
sie beide ein gutes Mahl und weckte den Sohn, als es bereit war. Eine
Stunde danach holte ein Wagen sie und das Gepäck ab und fuhr durch das
Gewirr der Straßen bis zum Rande der Stadt, wo die Landstraße begann,
mit weißem Schnee strahlend bedeckt. Dort stand ein schöner,
stattlicher Schlitten für sie bereit, mit zwei Pferden bespannt, deren
Zaumzeug mit hellklingenden Glocken besetzt und der mit Decken und
Pelzen gegen die Kälte ausgerüstet war. Sie fuhren leicht und schnell
erst über Ebene dahin, auf der das Geläut der Schellenglocken zart
verhallte, dann aber bogen sie bald in dichten, hohen, verschneiten
Wald ein, und die Glocken umklangen sie lauter. Dann kamen sie wieder
auf freie Ebene, das Geläute ward leise, aber die starke, kalte
Winterluft umbrauste sie.
»Da kommen Wolken«, sagte der Knabe und deutete auf den
Horizont.
»Nein, das ist Gebirge«, antwortete der Vater.
Den Knaben überfiel ehrfürchtiges Staunen, denn, aufgewachsen
in völliger Ebene, hatte er Berge noch nie gesehen.
»Kommen wir auch dahin, in das Gebirge?« fragte er leise.
»Ja«, sagte der Vater.
»Ist die Schwester dort?«
»Nein, in einer Stadt hinter dem Gebirge.«
Der Knabe dachte, seit er ihr Bild wiedergesehen hatte, immer
an die Schwester, und er begriff nicht, wie sie so weit von Hause fort,
in eine Stadt hinter dem Gebirge gekommen sein sollte.
Nach sechsstündiger, schneller Fahrt erreichten sie die
Grenzstation, wiesen ihre Papiere vor, erhielten Nachtquartier und in
gebrochenem Deutsch das Versprechen, in aller Frühe am nächsten Morgen
einen Schlitten zu erhalten, der sie bis Mittag zur nächsten
Poststation bringen würde, von wo sie wieder Post nehmen könnten. Als
aber bis elf Uhr am nächsten Vormittag noch immer kein Gefährt sich
zeigte und der Vater aus den verschiedenen Auskünften entnehmen konnte,
daß der Weg bis zur Station nur zwei Stunden weit sein könne, beluden
sie sich beide mit ihrem Gepäck und beschlossen, zu Fuß hinzukommen.
Sie mußten aber nach einer kurzen Strecke Weges wieder umkehren, da
alles tief verschneit war und ohne Spur und Richtung. Sie verhandelten
nun aufs neue mit ihren Quartiergebern, und endlich fuhr nach Tisch ein
kleiner, verwachsener, aber noch junger Bursche, der in einen so weiten
und langen Pelz gehüllt war, daß man selbst beim Gehen seine Füße nicht
sehen konnte, einen schmalen, mit einem kleinen grauen Pferd bespannten
Schlitten vor dem Gasthaus vor. Er trat ein, setzte sich zum Tisch der
Reisenden, lachte sie freundlich an und begann ein Glas Schnaps nach
dem anderen zu leeren, das die Wirtin ihm still und ohne Aufforderung
hinstellte. Nach dem vierten Glas begann er mit der Wirtin zu sprechen,
und da beider Augen sich im Gespräch mehr und mehr mit teilnahmsvollen
Blicken auf Vater und Sohn richteten, verstanden diese, daß die Wirtin
ihm wohl ihre Geschichte erzähle. Dem Burschen stiegen Tränen in die
kleinen, grauen Augen, er sprang auf, trat stürmisch auf Christian zu
und umarmte ihn, dann den Sohn, wobei er unaufhörlich in warmem,
beteuerndem Tone zu ihnen sprach, die seine Worte aber nicht verstehen
konnten. Dann schrie er die Wirtin an, die ihm schnell noch ein Glas
Schnaps brachte. Er stürzte es hinunter und lief aus der Stube in den
Hof zum Schlitten. Als die beiden Reisenden ihm nacheilen wollten,
mahnte die Wirtin den Vater noch schnell an das Geld für den Schnaps,
und in der einen Hand den empfangenen Betrag haltend, schlug sie mit
der anderen über sein Gesicht und seine Brust das Zeichen des Kreuzes.
Als sie draußen in den Schlitten einstiegen, wunderte sich der
Sohn sehr, daß dieser keinen Kutschbock hatte und der Kutscher, die
Zügel in der Hand, neben dem Pferde stand.
»Läuft er nebenher?« fragte der Sohn.
Doch auch der Vater konnte ihm darauf keine Antwort geben. Als das
Gepäck aufgeschnallt war, warf der Bursche die Zügel lang aus, knallte
mit der Peitsche, das Pferd zog an, der Schlitten fuhr, der Bursche
blieb zurück und schien
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