Das verlorene Kind
verschwunden. Doch als Karl sich umwandte,
stand er dicht hinter ihm, mitten im Fahren, und lachte über seinen
Kopf ihn an. Karl hielt ihn für einen Zauberer. Doch der Vater erklärte
ihm: »Er steht auf den Kufen des Schlittens.« Da bewunderte der Knabe
den Burschen sehr und nahm sich vor, daheim auch zu probieren, so zu
fahren. Aus ruhigem Trab geriet das kleine Pferd mehr und mehr in
Galopp, bald flogen sie über die weiße Ebene hin, ohne Weg und Steg,
selbst nur eine leichte Spur hinterlassend. Es war bereits vier Uhr
geworden, und die Dämmerung begann. Es war eine seltsame Fahrt. Der
Bursche hielt lose die Zügel und schien kaum zu lenken, sang
unaufhörlich leise vor sich hin. Es wurde dunkel. Sie flogen dahin,
sahen nichts, kein Dorf, keinen Baum, keinen Meilenstein, nirgends ein
Tier, sie hörten nichts als das Schnaufen des Pferdes, denn sein
Hufschlag war unhörbar in dem weichen, dichten Schnee, und den leisen
Gesang des Kutschers. Die Kälte stieg, ihre Glieder erstarrten. Der
Sohn biß sich auf die Lippen, um seinen Schmerz nicht zu zeigen. Der
Vater saß still, längst hatte er aufgehört, auf die Empfindungen seines
Körpers zu achten. Sterne waren nicht am Himmel, der von Wolken bedeckt
schien. Plötzlich bog der Schlitten scharf um, und in der Dunkelheit
schimmerte noch dichtere Schwärze zu ihrer linken Seite. Nach und nach
erkannte der Vater, daß sie am Fuße eines Berges hinfuhren. Ächzen von
Tannen unter Schnee war zu hören, plötzlich auch ein Vogelschrei,
scharf und erschreckend aus der Dunkelheit, dann ertönte leises
Rauschen von Wasser unter dünner Eisdecke, dann das Knarren des Holzes
einer unter Schnee versteckten Brücke, über die sie hinflogen. Wieder
wendete der Schlitten, sank tief ein, und langsam und mühselig zogen
sie über eine schmale Spur durch Wald. In der Finsternis streiften sie
niedere Äste von unsichtbaren Tannen, die bei der Berührung schwere
Lasten von Schnee auf sie niederwarfen. Der Kutscher, im Dunkeln hinter
ihnen, sang. Das kleine Pferd keuchte. Plötzlich sauste ein scharfer
Peitschenknall des Kutschers über ihre Häupter hin, eine scharfe
Wendung in das Dunkel hinein ließ den Schlitten so tief zur Seite sich
neigen, daß die Reisenden beinahe herausgeschleudert worden wären, und
als sie sich von der Verwirrung wieder erholt hatten, spürten sie nun
weiten Raum um sich, der Schlitten glitt wieder schnell dahin, die
schwarze Dunkelheit lichtete sich, und ganz plötzlich hielten sie.
Sie befanden sich auf einer freien Anhöhe vor der Stadt. Der
Knabe stieß einen lauten Schrei des Entzückens aus, auch der Vater
lächelte, ein schweres, ungeschicktes Lächeln, so plötzlich hatte das
Gefühl von Freude ihn überrascht. Sie hatten nicht gemerkt, daß sie
bergauf gefahren waren, hatten nie auf einer Höhe über umliegendem Land
gestanden, und sahen nun, sanft tiefer und tiefer gesenkt, die Anhöhe
vor sich abfallen, sich weit in das Tal einschmiegen, das ein großer,
breiter Fluß durchzog, dessen Eisdecke matt zu ihnen heraufleuchtete.
Und dann erblickten sie, mehr und mehr ihren fassungslos staunenden
Augen aufgehend, dunkle Brücken, die den lichten Fluß in weichen Bogen
überspannten, die Lichter der Brücken, die Lichtreihen der Straßen, die
Lichter in den Häusern, und endlich konnten sie auch mit einem Blick
die ganze gewaltige, zu ihren Füßen sich ausbreitende Stadt umfassen.
Sie erhellte die Luft über sich mit rötlichem Schein; Vater und Sohn
sahen die Erde Licht und Röte hinauf gegen den nachtdunklen Himmel
strahlen, wie in der Heimat nur der Himmel Licht und Röte des Morgens
oder des Abends zur Erde niederstrahlte. In den erleuchteten Himmel
ragten die unzähligen, hohen Türme schwarz hinein, die großen, runden,
weitgeschwungenen Kuppeln, jede ein Himmel wieder für sich. Jetzt
vernahmen sie auch die Töne der Stadt, ein leises, stetes Murmeln, bis
plötzlich das Geläute der Glocken einsetzte, das von den vielen Türmen
mehr und mehr erklang und zu einer so großen Fülle und Kraft und
Schönheit anschwoll, daß es nicht mehr mit dem Ohr allein, sondern nur
mit allem aus der Tiefe des Herzens aufgerufenen Gefühl erfaßt werden
konnte. Der Vater fühlte, wie er zitterte. »Ich will alles auf mich
nehmen, ich will beten, daß das Kind noch lebt«, dachte er.
Auf das Abendgeläut hatte der junge Kutscher gewartet. Einfach
kniete er im Schnee nieder, schlug das
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