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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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waren innen feucht von Blut. Jetzt
erschrak sie wieder sehr. Sanft, doch schnell entkleidete sie ihn
völlig und suchte nach der Wunde. Doch die Kammer war eisig und dunkel.
Sie hüllte ihn in eine Decke ein, sie nahm ihn wie ein Kind auf ihre
starken Arme, leicht lief sie mit ihm hinüber ins Haus, trug ihn in
ihre Kammer, legte ihn in ihr Bett. Hier war die Kälte nicht so eisig,
da von der durchlaufenden Küchenwand Wärme ausstrahlte. Nun holte sie
Schnee und rieb die erfrorenen Füße ab. Dann kam sie mit warmem Wasser
und einem weichen, sauberen Tuch. Mit der selbstverständlichen, ruhigen
Bewegung einer Mutter schlug sie die Decke und das Hemd zurück, um die
Wunde zu suchen und zu waschen. Sie fand an seinem rechten
Oberschenkel, nahe dem Leib zu, eine große, schwarze, blutunterlaufene
Beule, deren Mitte aufgerissen war und blutete. Es war die Wunde von
dem Pferdehuf, der ihn gestern im Stall getroffen hatte. Leise stöhnte
Fritz vor Schmerz. Doch Emma wich zurück. Ihre mütterliche,
hilfsbereite Hand sank nieder, glühende Röte überzog ihr Gesicht,
Entsetzen fühlte sie im Herzen. Dieses Kind, das sie eben noch auf den
Armen hierher getragen und gebettet hatte, war nicht mehr Kind.
Aufgedeckt lag vor ihr der entblößte Körper eines Mannes, der
entsetzensvolle Anblick, der sie erinnerte an die furchtbare, fremde
Gewalt des andern Geschlechts, die sie in der grausamsten Überwältigung
ertragen hatte, damals, als sie dieses Kind empfing. Sie verhüllte ihre
Augen. Es war ihr, als hätte sie ihr Kind verloren. Schmerz kämpfte mit
Entsetzen, Liebe mit Abscheu vor dem eigenen Kinde lange in ihr. Von
Zeit zu Zeit vernahm sie sein jammervolles Stöhnen, seine schmerzlichen
Seufzer. Sie wollte gehen, den Herrn um Hilfe rufen, dann wieder
schämte sie sich, niemand sollte das Kind so sehen, in dieser
fürchterlichen Gestalt. Mühsam zwang sie sich dazu, das Blut um die
Wunde abzuwaschen, ihr weiche, kühlende Salbe aufzulegen, mit Leinen
sie zu verbinden. Dann deckte sie ihn zu. Seine Füße rieb sie alle
halben Stunden mit frischem Schnee, bis sie nach und nach die
Erstarrung weichen sah und neues Leben und neue Wärme wiederkehren
fühlte. Seine Hände, die mit blutigen Rissen durchzogen waren, wickelte
sie in ölgetränkte weiche Tücher, mit dem Löffel flößte sie ihm heiße
Milch ein. Als sie abends mit der Arbeit im Hause fertig war, machte
sie sich eine kleine Öllampe zurecht und setzte sich zu ihm. Sie
blickte traurig und forschend in sein Gesicht, das ihr vertraute,
schöne, reine, engelgleich gebildete Gesicht, aber es verrann vor ihren
Augen, und immer nur sah sie seinen bösen, großen, männlich drohenden
Leib, und von Furcht und Abscheu überwältigt, sprang sie wieder auf.
Sie beruhigte sich mit Vorwürfen gegen sich selbst. Es war ihr gutes,
armes, krankes Kind, das mit einer Wunde fiebernd dalag. Es war ihr
großer, guter, erwachsener Sohn, der einzige, der fleißig, heiter und
unschuldig unter ihren Augen gelebt hatte in der ganzen bösen Zeit. Er
würde ein keuscher, liebevoller Mann werden, wie der Herr es war, ein
sorgender, aufopfernder Vater. Er würde einmal, wenn es sein mußte,
seine Frau umarmen, verborgen im Dunkel der Nacht, an sein Herz würde
er sie drücken, sanft sie einwiegen und hinnehmen in zartester Liebe,
so wie es ihr nie geschehen war. Gegen seinen Vater, den wilden, rohen,
entsetzensvollen Mann, hatte er sich gewehrt als Kind, hatte nach ihm
gebissen in Wut, er hatte nichts von seinem bösen, tierischen Blut in
sich. So verteidigte sie den Sohn gegen sich selbst, eilte noch einmal
in die Küche, machte Ziegelsteine heiß, die sie ihm an die Füße legte,
zwang sich, seine Wunde am Leib nochmals zu waschen. Er blieb
unverändert und regungslos, sie wußte nicht, ob er schlief oder wachte,
ob er sie hörte und spürte. Als die Nacht kam und sie Müdigkeit fühlte,
wagte sie nicht, wie sie gern tun wollte, sich zu ihm ins Bett zu
legen, sondern sie schlief, über zwei Stühle ausgestreckt, dicht an die
vom Küchenfeuer erwärmte Wand gedrückt, in Kleider und Tücher gehüllt,
beim Schein der kleinen Lampe, die sie brennen ließ.
    Am nächsten Morgen verrichtete sie hastig die Arbeit, dann
eilte sie hinauf zu Fritz. Zögernd öffnete sie die Tür und blickte
angstvoll nach ihm hin. Er schlief. Sein ruhiger und kräftiger Atem
hauchte ihr entgegen. Sie näherte sich ihm. Sein Kopf war zur Schulter
gesenkt, er

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