Das verlorene Kind
des Hauses, und seine Mutter konnte ihn nicht finden,
wenn sie ihn für Dienste in der Küche brauchte. Sie geriet in Sorge um
ihn und konnte sich nun nicht mehr dagegen wehren, daß er ihr mehr und
mehr fremd wurde und ihr Furcht einflößte. Als der Herr mit ihr darüber
sprach, daß er fort solle, weil es das beste sei für die jungen Kinder,
auch seine Söhne sollten ja fort, da war sie überzeugt, daß sie ihn für
immer verlieren würde.
»Jetzt kommt das Unglück an mich«, sagte sie.
»Nein, Emma, das ist kein Unglück. Gott bewahre dich vor allem
Unglück. Laß ihn ziehen, hier ist kein frohes Haus.«
So ward es abgemacht, daß der Herr sich nach einem guten Dienst für ihn
umsehen wollte.
Mitte Februar ließ nach vier Wochen die furchtbar strenge
Kälte nach. Die Luft, von leichten Dünsten durchtrübt, erwärmte sich,
in der Mittagssonne schmolz das Eis von den Dächern, an der Pumpe des
Brunnens, die stahlharte Kruste der Erde wurde weich. Der Geflügelstall
konnte mittags geöffnet werden, und betäubt und geblendet von Luft und
Licht stießen die Tiere in taumelndem Zickzack durcheinander. Die
Herden hatten sehr gelitten von dem Frost, der Nachwuchs war
verkümmert, von Läusen zerfressen waren die Gefieder der Federtiere,
ihre Sporen und Latschen überkrustet von Grind. Zwei Pferde, schöne,
starke Gäule, fraßen nicht mehr und mußten erschossen werden, da dem
einen Eiter von den erfrorenen Ohren in den Kopf gedrungen, das andere
lungenkrank geworden war. Vier zweijährige Hengste mußten in ärztliche
Behandlung gegeben werden, und auch in der Kuhherde hatte die Kälte
großen Schaden angerichtet. Nach weiteren drei Wochen Sonne und
Erwärmung konnten die Kartoffelgruben aufgedeckt werden, drei Viertel
der Kartoffeln und der Gemüse waren erfroren und verfault und konnten
nur als Schweinefutter verwendet werden. Ende Februar setzte schon das
große Tauen ein, und nun gab es wieder viel Mühe und Arbeit, das
Wasser, das den ungeheuren Schneemassen entschmolz, aus dem Hause und
den Ställen, wo es überall eindrang, fernzuhalten. Anfang März war
schon weit und breit kein Schnee mehr auf den Feldern, und das Frühjahr
kam so schnell, daß über Nacht die Halme der Wintersaat handhoch
hervorschossen. Doch richtete das Wild viel Schaden an, das in Rudeln,
halb verhungert durch den harten Winter, aus dem Forst bis auf die
Felder kam und dort äste. Obwohl der Wirtschafter nachts einige Tiere
abschoß, bemerkte man doch immer wieder neue große Strecken, die
kahlgefressen waren. Die Märzsonne brannte schon heiß, es war wie
früher Sommer. Die Menschen, nach der eisigen Kälte berauscht durch die
plötzliche, feucht dampfende Wärme der Luft, drängten sich in die
Sonne. Scherze, Spiele, wilde Liebkosungen gab es überall, schwer war
es, die alte Zucht und Ordnung aufrecht zu erhalten.
Als die Ställe wieder in Ordnung waren, die Überschwemmung
glücklich abgewendet, und als auch der Hof, wieder von Eis und Schnee
gesäubert, mit seinen alten, großen Pflastersteinen in der Sonne
glänzte, wurde geschlachtet und gewaschen. Durch zwei Monate hindurch
war das Gut völlig von aller Umwelt abgeschlossen gewesen, erst wegen
der Kälte, dann, weil die Wege durch grundlosen Morast ungangbar
geworden waren. Man hatte weder zum Markt, noch zur Kirche, noch zum
Friedhof fahren können, und kein Besuch hatte kommen können. Aber zur
Ausreise der Söhne war doch schon alles aufs eifrigste gerüstet worden.
Zwei schöne, selbstgefertigte Truhen, geschnitzt und bemalt, mit
eisernen Beschlägen versehen, die der Schmied selbst gehämmert hatte,
waren schon fertig und mit Wäsche und Kleidern gefüllt. An einem
Sonntag nahm der Vater die Söhne mit sich in seine Stube, sprach mit
ihnen über die Zukunft, gab ihnen Rat für ihr bevorstehendes Leben in
der Stadt, auf was sie achten müßten und auf was nicht, wie sie ihr
Geld einteilen und die Augen offenhalten sollten, ob es vielleicht noch
einen anderen Beruf als die Landwirtschaft für sie gäbe, den sie sich
erwählen möchten. Dann wolle er ihnen auch da nach Kräften mithelfen.
Er sah ihnen dabei prüfend in die Gesichter und forschte vorsichtig mit
Worten in ihren Seelen, merkte aber bald, daß das Unglück für sie nicht
größer gewesen war als ihre jungen Kräfte, es zu ertragen, und daß die
gute Ordnung ihres Lebens noch nicht zerstört war. Das erleichterte ihn
sehr, trieb ihn aber noch mehr
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