Das verlorene Kind
an, die Abreise der Kinder zu
bewerkstelligen und alle Vorsorge beizeiten zu treffen. Ja, diese
sonderbare Ungeduld ließ ihn den Tag der Trennung sogar mit Sehnsucht
erwarten. Kaum waren die Wege etwas getrocknet, fuhr er in die Stadt,
die letzten notwendigen Dinge zu kaufen. Er vergaß dabei auch nicht
Fritz, für den es ihm gelang, eine Stelle als Kutscher und
Pferdefütterer bei dem Schultheißen Mandelkow in Pl. auszumachen, den
er auf dem Viehmarkt traf. Am Abend, als alles erledigt war und es
schon dämmerte, lenkte er seine Schritte noch zum Friedhof.
Die Sonne hatte den ganzen Tag über warm geschienen. Die Erde,
feucht und schwarz, hielt Wärme noch in sich und hauchte sie, wie im
Schlafe der Übersättigung, in die Dämmerung zurück. Ein Knistern,
leise, aber doch an- und abschwellend in einem geheimnisvollen Takt,
kam von den Gräbern her. Unsichtbar regten sich hier, zwischen den
Reihen der Toten, die trüben, zeugenden Kräfte der Natur. Mit kalter
Trauer schritt Christian zwischen den Gräbern hin. Ohne Trost,
unerbittlich gegen sich selbst, hatte er sich dem unerbittlichen Gott
hingegeben, bis zum Ende menschlicher Kraft. Das Letzte glaubte er
erlitten zu haben, doch das Ende hatte sich zum Anfang verwandelt, die
schmale Lichtspur zur Klarheit war verschüttet und verlöscht, und als
er jetzt im Halbdunkel um die Grabhügel suchend irrte, über deren
todbergenden Grund neues Leben trieb und gierte, fühlte er Böses, doch
nicht mehr Gott, sondern Teuflisches drohen. Er strebte aus den Reihen
der Gräber heraus, dem freien Gelände zu, das die neuen Ruhestätten
trug. Doch der schwere Winter hatte die frischen Hügel erdrückt und
verwüstet, und da noch kein Stein errichtet worden war, konnte er in
der sinkenden Dunkelheit das Grab seiner Frau nicht mehr unterscheiden;
er legte den Kranz von Immortellen, den er mitgebracht hatte, auf ein
kleines, ganz frisch aufgeschüttetes Grab nieder, ging zurück in die
Stadt und fuhr heim.
Anfang April zogen die jungen Leute fort. Im Wagen saßen die
Söhne mit dem Herrn und dem Gepäck, Fritz sollte zum letzten Male die
Treuener Pferde lenken. Er hatte ein großes Bündel, in festes neues
Leinen geknüpft, neben sich auf dem Kutschbock. Auch für ihn war
gesorgt, genäht und gestrickt worden, neue Wäsche, Stiefel, eine Mütze
und Joppe hatte ihm der Herr geschenkt, neben drei blanken Talern.
Während die Söhne mit traurigen, bekümmerten Mienen sorgfältig von
jedem einzelnen Abschied nahmen, pfiff und sang Fritz den ganzen Morgen
vor sich hin, putzte die Pferde, machte sich unermüdlich an dem Wagen
zu schaffen und kümmerte sich um niemand. Seine Mutter war in Sorgen
und Kummer während der letzten Zeit ihm immer nachgegangen. Sie wollte
mit ihm sprechen, das Fremde, das böse Grauen, das sie vor ihrem Kind
empfunden hatte, und das zwischen ihnen immer noch stand, das wollte
sie auslöschen, ihn umarmen, ihn fühlen als ihr Kind, ihr Fleisch und
Blut. Sie wollte ihn auch warnen, ihn aufmerksam machen auf sich
selbst, ihn ermahnen, daß er nichts Unrechtes tun sollte, nicht auf die
älteren Knechte hören dürfe, die gemein und verdorben seien, er solle
bei jedem Mädchen an seine Mutter denken, er solle Gott und die Gebote
nie vergessen. Doch jedesmal, wenn sie mit ihm allein war, fand sie
keine Worte, schlug die Augen nieder vor ihrem Kinde, errötete, und
Scham erstickte ihre Gedanken. Sie floh vor ihm, um dann, wenn sie
wieder ruhiger geworden, in neue Sorgen zu verfallen. Am Tage der
Abreise war sie aufgelöst, ganz verstört vom Schmerz der Trennung, denn
es war ihr, als verlöre sie drei Kinder auf einmal. Fast die ganze
Nacht vor der Abreise weinte sie und betete für die Kinder. Die
Erinnerungen an die kleine Anna, an die arme, tote Frau überfielen sie
mit neuem Schmerz. Alles alte Leid wachte wieder auf, überwältigte in
einem schmerzenden Krampf ihr Herz. Am Morgen war sie kaum fähig, die
Arbeit und die letzte Vorsorge für die Reisenden zu schaffen. Bleich
und verstört wankte sie im Hause umher. So war der Wagen schon
vorgefahren, alles verladen und aufgestiegen, und Fritz knallte schon
mit der Peitsche und rief durch das offene Küchenfenster herein
»Adjüs!«, als sie eilig hinausstürzte zum Abschiednehmen.
»Ach Emma!« rief Karl, der ältere Sohn, und sprang wieder vom Wagen
herunter, lief in ihre Arme und weinte hell und kindlich an ihrer
Brust, während sie ihn an sich
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