Das verlorene Kind
gekommen, um bei dem Bruder zu sein, und
überredete ihn, in diesen Tagen mit zu ihr, nach Hause, zu kommen.
Christian willigte ein. Er hatte geglaubt, auch die Erinnerungen in die
Tiefe seines von Schmerzen wie ausgehöhlten Herzens versenken zu
können, doch jetzt packte ihn Grauen, jetzt trieb es ihn zur Flucht. Er
rief Blank und Emma zu sich in die Stube und gab an, daß morgen,
Sonntag, alle zur Kirche fahren sollten, und wer wolle, könne
nachmittags ausbleiben, und er verteilte auch einige Zehrpfennige. Nur
solle Emma nach dem Mittag das Feuer gut löschen im Herde und es am
Abend nicht wieder entzünden, kalte Milch und Brot sei zum Essen genug
da. Emma, seit der Abreise der Kinder sehr verändert, erbleichte,
zitterte in Furcht, richtete den flackernden Blick auf den Herrn und
flehte: »Herr, geht nicht fort, es sind böse Tage, ich fürchte mich,
bleibt hier, Herr, bleibt bei uns«, und sie legte am Ende der Rede mit
verzweifelter Gebärde ihre Hände über das Gesicht.
Erschüttert, unschlüssig sah der Herr Emma an. Klara trat auf
Emma zu. »Was hast du? Fehlt dir der Sohn? Du hast wohl Sehnsucht?«
Emma ließ die Hände sinken, unruhvoll, als flüchte sie vor
sich selbst mit ihren Blicken, wanderten ihre Augen hin und her. »Nein,
Frau, ich weiß nicht, was das ist, ich habe keine Sehnsucht nach ihm.
Nur Angst habe ich. Denn, wißt Ihr, liebe Frau, zweimal gehen die
Kinder von uns, wenn sie geboren werden und wenn sie unrein werden.
Wenn sie böse werden, dann gehen sie aus dem Herzen fort, die Mutter
sehnt sich nicht nach ihnen.«
»Du versündigst dich!« sagte Klara entsetzt. »Was hat er denn
getan?«
»Er hat nichts getan, Frau, gar nichts, aber es ist besser,
man hat kein Kind.«
Klara trat dicht zu Emma heran, rüttelte sie an den Schultern.
»Emma, was hast du? Vertrau es mir. Ich war doch dabei, wie das Kind
kam, weißt du es noch? Sage mir alles.«
»Es ist nichts, liebe, gute Frau. Es ist nichts. Er ist doch
brav und gut und fleißig. Das bin nur ich.«
»Es ist Sünde, wie du sprichst.«
»Ihr habt keine Kinder, Frau, Ihr wißt nicht, was da alles
kommen kann.«
Glühende Röte überzog jetzt Emmas Gesicht, sie wandte sich zur
Tür. »Herr, bitte, kommt mit, ich brauche Fett und Mehl aus der Kammer
für den Sonntag.« Und als der Herr ihr folgte, ging sie stets vor ihm
her und zeigte ihm ihr Gesicht auch nicht, wenn sie ihn für alles genau
um Anweisung fragte.
Christian erschütterte tief ihr verstörtes Wesen. Warum muß es
auch noch sie ergreifen, dachte er, und um ihretwillen wäre er jetzt
gern zu Hause geblieben. Doch als er neben ihr die von Sonnenlicht
durchflutete Küche durchschritt, auf dem Herd den schweren, roten Saft
der Beeren in den Töpfen brodeln sah, stieg die Erinnerung auf an Weib
und Kind, wie sie hier, innig im Spiel verschlungen, übermütig sich im
Kreise gedreht hatten, wie in unbeschreiblich süßem Doppelklang ihr
Lachen ertönt war, und es hetzte ihn von neuem mit Gewalt zur Flucht.
Mit einer Eile, mit einer Ungeduld, die man noch nie hatte an ihm
bemerken können, befahl er, den Wagen fertigzumachen, und trieb zum
Aufbruch. Nach einer halben Stunde schon fuhr er mit der Schwester
davon.
Die zurückblieben, hockten sich zusammen in dem kühlen
Hausflur auf die Steinfliesen und auf die ersten Stufen der
Kellertreppe nieder. So genossen sie den frühen Feierabend. Sie
sprachen von der kleinen Anna, zum erstenmal wieder nach langer Zeit,
doch so, als ob sie längst tot wäre, ermordet von den Zigeunern. Die
Mägde begannen zu schluchzen und wollten erzählt haben, wie und wo das
Kind begraben sei, und wollten nicht glauben, daß man es nirgends und
nirgends finden könne. Die Männer verhandelten, scheinbar gänzlich
unbewegt, darüber, ob der Herr nicht von Staats wegen Schadenersatz
haben müsse, dafür, daß die Gerichte den Prozeß mit den Zigeunern
aufgelassen und abgebrochen hätten, wo es doch Zeugen und Geständnisse
genug gab, daß das Kind bei den Zigeunern gewesen war. Und man merke
doch, wie die schöne Wirtschaft hier zugrunde ginge, und es sei eine
Schande, wenn das Kind eines Herrn und steuerzahlenden Bauern einfach
von der Erde verschwinden könne.
»Der Herr ist zu gut, wenn er nur das Kind wiederbekommen
hätte, er hätte sein letztes Hemd gegeben«, sagte Blank. Alle nickten
stumm. Emma kam und brachte das Vesper, einen großen Eimer saurer
Milch, Becher für alle und
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