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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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geschnittenes Brot. Sie setzte sich zu
ihnen, niemand wollte allein sein. »Wir haben es schön da,« sagte sie,
»unser Herr ist gut. Er hätte kein solches Unglück verdient.« Wieder
nickten alle, und es blieb eine Weile still. Plötzlich ertönte die
heisere Stimme eines Greises, eines alten Tagelöhners, der vor kurzer
Zeit um Arbeit betteln gekommen war, und den der Herr um Obdach und
Gnadenbrot aufgenommen hatte. Er setzte den mit Mühe zum Mund geführten
Becher mit zitternden Händen wieder ab und sagte, die trüben kleinen
Augen ins Leere gerichtet: »Es kann nichts verschwinden von der Erde,
was da war, kommt wieder.«
    Sie versuchten zu lachen, sich des Grauens zu erwehren, das
bei den Worten des Greises sie alle anfiel, und Anton schrie laut dem
Alten ins Ohr: »Was tot ist, kann doch nicht wiederkommen.
    »Tot?« sagte der Alte, schüttelte den Kopf, winkte abwehrend
mit der Hand und schwieg. Auch die anderen schwiegen, keiner wurde des
frühen Feierabends froh. Als endlich die lastende, zehrende Sonne dem
Abend langsam gewichen war, krochen sie heraus, versorgten noch das
Vieh und rüsteten still Kleider und Schuhe für den Sonntag.
    Den ganzen Sonntag war Emma mit einer älteren Magd allein im
Hause. Unruhe und Angst trieben sie umher, plötzliche Mattigkeit ließ
sie zusammensinken, bis sie von neuem wieder aufgejagt wurde. Sie
durchlief das ganze Haus, ordnete die geordneten, leeren Zimmer,
öffnete Fenster und schloß sie wieder, prüfte die Ställe, spähte, die
Hand schützend über die Augen gelegt, mit scharfem Blick über den
Umkreis des Hofes, nach den Scheunen, den Gärten, den Wiesen hin. Alles
lag still, verdorrt, tot in der sengenden Glut da. Sie dachte daran,
wie sie im vorigen Jahr um dieselbe Zeit das Kind gesucht hatten,
gerufen und gelockt, und plötzlich war ihr, als sei die glühende,
flimmernde Stille ringsum erfüllt von leisem, langgezogenem
Kinderweinen, und darüber hin erklang aus der flirrenden Hitze in
höheren Tönen leises, jauchzendes Lachen, vermischte sich mit dem
Weinen und schied sich wieder von ihm, allein für sich hintönend.
    Emma stürzte ins Haus, bleich und kalt, trotzdem sie in der
furchtbaren Glut im Hofe gestanden hatte. Sie lehnte sich mit der Brust
gegen die Wand, preßte die Hand auf das verkrampfte Herz. Die Magd, die
am kühlen Steinboden saß, sah sie an. »Hörst du es?« brachte Emma
endlich hervor.
    »Nein«, sagte die Magd ruhig. Und sowie die Magd ihre Stimme
erhoben hatte, war das Weinen verstummt.
    »Es hat geweint und gelacht in der Luft, ich habe es gehört«, sagte
Emma.
    »Du kommst jetzt in die Jahre, das ist das Blut«, sagte die
Magd.
    »Nein, ich bin noch zu jung dazu, es ist Angst, immer Angst«
    »Bei dem einen kommt es früher als bei dem andern. Wie alt
warst du, als es zum erstenmal gekommen ist?«
    »Ach, das ist es nicht, das ist heute der Unglückstag.«
    »Man kann nicht ewig trauern. Wenn einen Gott leben läßt, muß
man leben. Die einen sind tot, und die andern leben noch. Mit dem Kind
ist es wohl etwas anderes, da ist kein Grab und nichts, jetzt wäre es
fünf Jahre.«
    »Das Lachen war schrecklicher als das Weinen, ich habe es noch
deutlicher gehört«, sagte Emma, noch immer verstört.
    »Es ist etwas im Hause,« erwiderte die Alte, »ich fühle es
wohl auch. Es war auch niemals recht von der Frau, wie sie da kaum von
der Krankheit aufgestanden war und zum Weihnachtsfest das Bettchen auf
den Boden räumt. Aber die Strafen sind zu hart. Der Herr ist gut, es
ist schon unheimlich im Hause.« Und die beiden Frauen schwiegen
beklommen in dem einsamen, stillen Hause, das umlastet war von
glühender Hitze.
    Gegen Abend, als kaum die letzten des heimkehrenden Gesindes
zurückgekehrt waren, überzog sich plötzlich, unfaßbar woher, der eben
noch weiße, glutflirrende Himmel mit schwarzen, tief herabhängenden
Wolken. Die Luft war still, dick, nicht zu atmen mehr, und von Dunst
durchzogen, der trocken, beißend wie Rauch war. Eine fahle, gelbe
Dämmerung senkte sich mehr und mehr nieder. Es war kaum sieben Uhr, und
alle saßen um den großen Tisch zum Essen versammelt. Viele waren noch
laut und lustig, manche noch berauscht vom Schnaps, den sie in der
Stadt genossen hatten, andere von Küssen, getauscht in der Tiefe des
Waldes, an einem verborgenen, noch grün schimmerndem Ort, wo eine
Quelle noch gerieselt hatte inmitten der tot und verdorrt in Hitze
knisternden Bäume,

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