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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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zu. Die hohe Garbenmauer war schon zur Hälfte abgetragen, ein schmaler
Gang, rechts der Wand entlang, legte einen tiefen Winkel der Scheune
frei. Im Hin- und Hergehen, im Reichen und Heben der Garben fühlte die
junge Magd plötzlich in ihrer lose unter dem Hemd mitschnellenden Brust
schweres Ziehen und drückenden Schmerz, eine leichte Schwäche zitterte
durch ihren Körper, und als sie sich bückte, fühlte sie ein mildes Weh
ihren Leib zusammenziehen, und, neben dem rinnenden Schweiß, die
tiefere Wärme ihres Blutes sanft an sich niederrieseln. Da sie nur mit
Hemd und Rock bekleidet war, wagte sie nicht, vor den Männern in die
blendende Helle des Hofes zu treten, um so in ihre Kammer zu gelangen,
sondern sie wandte sich verlegen der noch tieferen Dunkelheit der
Scheune zu und schlich sich in den Winkel. Sie ergriff eine Handvoll
Bodenstroh, um sich zu reinigen. Da berührte sie einen glatten, unter
dem Stroh weiß hervorschimmernden Gegenstand, und als sie das Stroh
wegriß, lag vor ihr entblößt die obere Hälfte eines kleinen
Menschenschädels. Entsetzt starrte sie darauf nieder. Sie wußte nicht
genau, was sie eigentlich sah, aber ein furchtbares Grauen ging davon
aus, lähmte sie, sie vermochte nicht zu rufen noch sich zu rühren. Vorn
in der Scheune setzte der gleichmäßige Takt der Drescher aus. »Garben!«
rief Anton mit lauter Stimme. Als keine Antwort kam, durchforschte er
mit scharfen Augen den Raum und erblickte endlich ihr helles Hemd und
ihre Arme schimmernd in dem tiefen dunklen Winkel. Er ließ den
Dreschflegel fallen, ging langsam zu ihr und legte den Arm um ihre
Hüfte. Doch sie stieß ihn von sich und zeigte mit der Hand zum Boden.
Er folgte mit den Blicken, erkannte langsam in der Dunkelheit das
schimmernde Weiß, das ihm ein Stein zu sein schien, und schob
vorsichtig mit dem Fuß das Bodenstroh noch mehr zur Seite. Der kleine
Schädel lag nun völlig entblößt vor ihnen, mit winzigen Zähnen in den
auseinanderklaffenden Kiefern. Jetzt schrie das Mädchen auf und barg
das Gesicht an der Wand. Auch Anton, stumm, von Grauen gepackt, wich
zurück. Auf den Schrei der Magd kamen die anderen herbei, beugten sich
nieder und fuhren entsetzt wieder empor. Alle flüchteten aus dem Winkel
fort, in der Mitte der Scheune blieben sie stehen, über ihre s
chweißtriefenden Körper, über ihre blutgefüllten Stirnen legte sich
Eiseskälte des Grauens.
    Nach langer Zeit sagte Anton: »Einer muß den Herrn rufen.«
    Keiner wollte gehen. Anton sah auf Paula, die bebend am ganzen
Körper, bleichen Gesichtes, am Tore lehnte. »Hole eine Hacke,« sagte er
zu ihr, und warf sich in die Brust, »man muß nachsehen, was es ist,
vielleicht ist es ein Tier.«
    Sie flüchtete davon. Sie lief über den Hof, und ihr Entsetzen
begann sich zu lösen, sie schrie, besinnungslos, jammernd: »Herr, Herr!
In der Scheune, Herr! Kommt schnell in Scheune vier, o Gott,
o Gott!« und sie hetzte umher, ohne Besinnung und Ziel.
    Der Herr kam mit dem Wirtschafter vom Boden des Schafstalles.
Er sah die Magd mitten im Hofe stehen und mit bleichem Gesicht in der
heißen Sonne, Blut an den Füßen, nach dem Scheunentor zeigen. Ohne sie
weiter zu fragen, ging er auf die Scheune zu. Aus der Küche kam Emma.
»Was ist, was schreist du so?« fragte sie die Magd. Diese besann sich
plötzlich. »Eine Hacke! Eine Hacke soll ich holen, in der Scheune ist
etwas vergraben!« Dabei legte sie ihre Hände über den schmerzenden
Leib. Emma erblickte die Blutspuren auf ihren nackten Füßen. »Gehe auf
die Kammer,« sagte sie sanft, »ich hole die Hacke.« Und schnell, doch
noch ruhig, eilte sie an die Gartenseite der Scheune, wo unter dem
vorspringenden Dach die Geräte hingen. Sie ergriff die Hacke und eilte
damit auf das Tor der Scheune zu.
    Da plötzlich, als sie vor dem Tore stand, die breite Dämmerung des
riesigen Raumes vor sich, die leicht hin- und herschaukelnde Hacke in
ihrer Hand, ward ihr die furchtbare Offenbarung der Wahrheit. Noch
wußte ja niemand, was in der Scheune verborgen lag. Aber sie erhob eine
gewaltig in ihr aufbrechende Kraft zur Seherin: die tiefe Verbundenheit
von Mutter und Kind, diese Verbundenheit des Blutes, das
ineinandergekreist war, das eine vom andern erzeugt und genährt, ward
lebendig in ihr, als trüge sie den Sohn noch einmal in sich; und doch
stand er vor ihr: Fritz, ihr Kind, begegnete ihr am Scheunentore, die
Hacke schaukelte in seiner Hand, das

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