Das verlorene Kind
alpbedrückter Herzen und die Geräusche der in den Betten schwer
sich herumwälzenden Leiber von Kammer zu Kammer.
Die Mitternacht kam heran. Es war weder Erde noch Himmel zu
sehen, auch das Gewitter nicht mehr zu unterscheiden, das so,
Finsternis selbst wieder von Finsternis umhüllt, unvernehmbar Auge und
Ohr, furchtbarer noch auf die Herzen der Menschen niederlastete. In der
Küche brannte noch das Licht, die trübe, flackernde, vom Schwefeldunst
der Luft halb erstickte Flamme der Lampe ohne Schein. Der Wind
raschelte, heiß und trocken wehte er in kurzen Stößen zu dem
halbgeöffneten Fenster herein. In der Küche waren Emma und der Herr.
Christian saß am oberen Ende des Tisches, das erbleichte Haupt
in beide Hände gestützt, die sich über den verhangenen Augen und der
breiten, klaren Stirn falteten. Emma saß ihm gegenüber, auf den Knien
eine Schüssel, aus der sie Beeren verlas. Ihre Hände zitterten, von
Zeit zu Zeit schöpfte sie tief Atem, füllte ihre ganze Brust damit aus,
hielt ihn an, lange, hob den Kopf und ließ ihn in den Nacken fallen,
bis sie mit einem leisen, dumpfen Seufzer den Atem wieder frei ließ und
den Kopf tief wieder auf die Brust, über die Arbeit senkte. Doch
freiatmen konnte sie sich nicht. Über sie, die Sanfte, über sie, die
Geduldige, im Leid niemals Müde, in Liebe Unerschöpfliche, war jetzt
der drohende Schlag eines bösen Schicksals nahe gehalten. Zum letzten
Male war sie so, wie sie bisher gewesen: um ihr Haupt, schwer und weit
gebaut, lag das weiche, glänzende Haar in üppige Flechten geordnet, am
Scheitel entlang und vorn über der Stirn, die rund gewölbt war wie eine
Kinderstirn, kräuselten sich kleine Locken, die mit einem zarten
Schimmer, wie goldgefärbte Luft, Haupt und Gesicht umspielten. Trotz
ihrer mütterlichen Brust, die sich voll unter dem Kleid wölbte, war
noch immer um ihre Gestalt, in ihren Bewegungen, in ihrer Stimme der
Hauch reinster Mädchenhaftigkeit, die gütige Keuschheit einer Mutter,
die nie Geliebte war. Zu dieser Stunde aber, der schweren, schwarzen
Gewitterstunde, war um sie ein besonderer Glanz, ein zitternder
Schimmer von Schönheit. Zarte Röte hob den noch immer goldfarbenen
Flaum ihrer Wangen, und der tiefe, leuchtende Glanz ihrer Augen färbte
das Blau zu samtenem Schwarz. In der dumpfen, bleiernen, heißen Stille
umwob es sie unsichtbar. Sie fühlte selbst ihre Gehobenheit, es
ängstigte und verwirrte sie, emsig versuchte sie sich in die Arbeit zu
retten. Der Herr, der sie lange angesehen und alles gefühlt hatte,
fragte sie: »Willst du nicht Feierabend machen? Es ist ja Mitternacht.«
»Ich kann mich nicht legen, Herr,« sagte sie, »es ist zu heiß.«
Sie schwiegen beide. Christian schloß die Augen wieder hinter
den gefalteten Händen, weich schlugen die Pulse der Schläfen und die
der Hände aneinander. »Immer noch Leben«, dachte er. Hinter seinen
festgeschlossenen, fest durch die Hände zugepreßten, wachen Augen war
eine Finsternis, tief wie Abgrund ohne Ende, weit wie der unbegrenzbare
Flug der Gedanken, und durch nichts wahrnehmbar als durch die in sich
selbst versunkene Seele. Ausgelöscht alles, was menschlich war,
Erinnerung, Glück, Leid und Gebet zu Gott. Er ruhte im Nichts, er ruhte
eine Sekunde lang im Tod. Aber die Ewigkeit verging, wie mit
Flügelschlag von weither kam wieder der erste Gedanke. »Das ist der
Tod«, dachte er, und nun war das Leben wieder da, sein Atem wehte, die
Schwärze vor seinen Augen wurde lichter, im dunklen Grau kam die
Erinnerung, fahle, trockene Erde sah er vor sich, von winzigen Löchern
durchsiebt, in die graue, kleine Mäuse in tausendfacher Zahl aus- und
einschlüpften, von weitem erschien das Haus, von schwarzen Wolken
umlagert, doch im Nacken fühlte er heiße, stechende Sonne. Er hob die
Hand ein wenig von den Augen, roter Schein, von bunten Lichtfunken
durchtanzt, drang durch die Lider. Er öffnete sie ganz und erblickte
Emma, leuchtend und schimmernd in der fahlen Düsternis der Lampe. Er
stand auf und trat ans Fenster, suchte den Himmel, doch Erde und Himmel
waren eins, verschmolzen ineinander zu wogender Finsternis.
Die ganze Nacht stand das Gewitter über Treuen, ohne sich zu
entladen. Gegen drei Uhr morgens war Emma, auf dem Stuhle sitzend,
eingeschlafen. Christian ging leise zum Tisch und löschte das Licht.
Aber die Morgendämmerung war noch furchtbarer als die beklemmende
Dunkelheit der Nacht. Das Licht des
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