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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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die Küche, wo nichts vorbereitet war, denn unbeweglich, in einem
Zustand von wacher Ohnmacht saß Emma auf ein und derselben Stelle. Eine
alte Magd verrichtete notdürftig die Arbeit des Haushaltes.
    Am Mittag kam eine aus sechs Mann bestehende
Kriminalkommission, ein Untersuchungskommissar, begleitet von
medizinischen und anderen Sachverständigen, und nahm während vier
Stunden den Tatbestand in der Scheune auf. Gegen Abend betraten der
Kommissar, ein Polizist und der Schreiber die Küche, setzten sich längs
des großen Tisches nieder und begannen mit dem Verhör des Gesindes.
Auch der Herr kam jetzt herein mit bleichem, verhangenem, ausgelöschtem
Gesicht. Die Fragen waren einfach, wie die Antworten, genau und klar.
Es ergab sich immer wieder das gleiche Bild der bereits schon vor
Jahresfrist aufgenommenen polizeilichen Protokolle, bis auf die jetzt
fehlenden Aussagen der verstorbenen Frau, der abwesenden Söhne und des
Dienstjungen Fritz Schütt. Über ihn wurden vorläufig Zeugen vernommen,
die aussagten, daß er gegen 4¼ Uhr vom Teich fortgegangen war,
mit Weidenruten bepackt, daß die kleine Anna ihm gefolgt war, daß aber
niemand sie mit ihm in die Scheune hatte eintreten sehen; dagegen waren
Zeugen da, daß er 4¾ Uhr mit Güse zur Vesper in die Küche
gegangen sei und dort seinen Becher mit Milch getrunken habe. Niemand
hatte Unruhe oder ein verändertes Wesen an ihm bemerkt, und die
Zeugnisse über ihn waren gut Der Kommissar fragte den Herrn: »Warum und
wann ist er von hier weggezogen?«
    »Er ist zur selben Zeit weg wie meine Söhne, mit denen er hier
aufgewachsen ist, und ich habe ihm selbst die Stelle verschafft«
    »Wo befindet er sich jetzt?«
    »Auf dem Rittergut Mandelkow, Plestlin.«
    »Wir werden ihn morgen dort vernehmen.«
    Es war Mitternacht, als das Verhör zu diesem Punkte gelangt
war. Alle waren bleich, übernächtigt, erschöpft durch Schrecken,
Aufregung und Hitze. Die Beamten saßen an dem langen Tisch und
schrieben Bogen für Bogen, sie hatten die Kragen ihrer Uniformen
geöffnet, Schweiß rann allen über die Gesichter. Der Gerichtsschreiber
löschte den letzten, eben geschlossenen Bogen ab und schob das gesamte
Protokoll dem Kommissar zur Unterschrift hin, wobei er sich
zurücklehnte und gähnte. Alle standen bereit, das Zimmer endlich zu
verlassen, als sich Emmas Stimme leise, aber durchdringend erhob.
    Sie hatte ihre Aussagen schon längst gemacht, wie die anderen
hatte sie geantwortet auf die Fragen des Kommissars. Dann hatte sie die
ganze Zeit über in der Ecke bei dem Herd gestanden, vier Stunden lang,
ohne sich zu rühren. Niemand hatte sie beachtet, selbst dann hatte
niemand an sie gedacht, als die Zeugen über Fritz vernommen wurden. Sie
hatte den Blick, voll unendlichen Schmerzes, voller Qual und Liebe,
unverwandt auf das erloschene Antlitz ihres Herrn gerichtet. Die
arbeitsharten Hände ineinandergepreßt, hatte sie gebetet, das
Vaterunser unzählige Male zwischen den stummen Lippen gehalten, flehend
zum eigenen Herzen gesprochen, Gott angerufen gegen das eigene Herz,
das alle Mutterliebe verlassen hatte. Als schon alles beendet war und
die Kommission schon aufstand und gehen wollte, war ihre Kraft im Kampf
erschöpft, sie sank in sich zusammen, sie fühlte sich auf den Knien
ruhen, sie hörte sich langsam, leise und deutlich sagen: »Herr
Kommissar, mein Sohn Fritz ist der Mörder, ich habe ihn gesehen mit der
Hacke, glauben Sie nicht seiner Unschuld und seinen guten Zeugen.«
    Die Stille, die diesen Worte folgte, war so tief, daß das
Flügelschlagen der kleinen Motten, die gegen das Licht der Lampe
stießen, wie Donner den Raum erfüllte. Dann kamen die scharrenden
Geräusche, mit denen die Umstehenden von Emma wegrückten und durch eine
Gasse, die sie bildeten, ihre zusammengesunkene Gestalt in dem Winkel
freigaben. Der Kommissar, mitten im Zimmer stehend, fragte: »Was sagen
Sie da? Stehen Sie auf und wiederholen Sie!«
    Doch sie rührte sich nicht. Den flehenden Blick auf den Herrn
gerichtet, sagte sie: »Schlagt mich tot, Herr, lieber Herr!«
    Christian stand auf und ging zu ihr. Sanft sie um den Leib
fassend, hob er sie vom Boden auf und führte sie zu einem Stuhl am
Tisch. Auch die Beamten nahmen wieder ihre Plätze ein, und der
Kommissar fragte: »Wer sind Sie?«
    »Emma Schütt«
    »Sie sind die Mutter von Fritz Schütt?«
    »Ja.«
    »Ich mache Sie aufmerksam, daß Sie nicht gezwungen sind, gegen
Ihren

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