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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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Sohn belastend auszusagen.«
    »Ja.«
    »Verstehen Sie mich? Sie brauchen als Mutter nichts Schlechtes
über Ihren Sohn zu sagen, selbst wenn er etwas Schlechtes getan hat.«
    »Ja.«
    »Also, was haben Sie gesehen, was er getan hat?«
    »Ich habe ihn mit der Hacke gesehen.«
    »Mit welcher Hacke?«
    »Die ich gestern geholt habe für die Scheune.«
    »Wo haben Sie sie geholt?«
    »Unter dem Dachvorsprung, da gehört sie hin.«
    »Und wann haben Sie Ihren Sohn damit gesehen?«
    »Als das Unglück geschah.«
    »Wollen Sie damit sagen, am 24. Juni des vergangenen Jahres?«
    »Ja.«
    »Wissen Sie noch, um welche Stunde das war?«
    »Eine Stunde vor dem Abendessen.«
    »Haben Sie mit Ihrem Sohn gesprochen?«
    »Ja.«
    »Was sagten Sie?«
    »Ich sagte: Was machst du mit der Hacke? Und er lachte und
schaukelte sie in den Händen und sagte: Ich habe sie ein bißchen
gebraucht.«
    »Er hat gelacht?«
    »Ja.«
    »Nun, da kann er doch nichts Böses getan haben, wenn er lacht.«
    »Nein.«
    »Ist das alles, was Sie wissen?«
    Emma verstummte, mit einer plötzlichen Bewegung sprang sie
auf, schlug die Hände vor das Gesicht und eilte hinaus.
    »Verdächtig,« sagte der Kommissar zu dem Gendarmen, »ist zu
überwachen.«
    Die Beamten erhoben sich nun eilig und fuhren noch in der
Nacht unter Zurücklassung der Wache ab. Das Gesinde zerstreute sich in
die Kammern, Christian blieb allein zurück. Er löschte das Licht. Eine
schmale, zarte Mondsichel stand am Himmel, Sterne, klar und funkelnd,
waren um sie geschart. Mattes Silberlicht umschwebte Hof, Brunnen und
die Scheune. Christian verließ die Küche und stieg leise die Treppe
empor zu Emmas Kammer. Er öffnete die Tür und trat ein. Ein Schrei wie
der eines gemarterten Tieres gellte neben ihm auf. Emmas Gestalt, im
Winkel neben die Tür gedrückt, schnellte vor, floh, schwang sich auf
das Bett, das breit vor dem geschlossenen, matt blinkenden Fenster
stand, Glas klirrte im nächsten Augenblick, das Holz des Fensterkreuzes
krachte splitternd, und nur in der allerletzten Sekunde konnte
Christian die schräg aus dem Dunkel der Kammer in die silberne Tiefe
des Hofes neigende Gestalt der Magd an den Röcken packen, und während
er mit der rechten Hand aus aller Kraft die gewaltsam zum Sturze
Strebende festhielt, zog er mit der Linken behutsam die zersplitterten
Glasstücke aus dem geborstenen Rahmen, brach eine Öffnung in das
geschlossene Fenster, durch das er Brust und Gesicht der Magd
zurückziehen konnte. Er legte sie auf das Bett und machte Licht. Beide
bluteten. Emma hatte Wunden im Gesicht, an Kopf, Hals und Brust,
Christian tiefe Schnitte an Händen und Armen. Mit geschlossenen Augen
lag Emma auf dem Bett, Schluchzen erschütterte ihren Körper, doch statt
Tränen rann ihr Blut über Haupt, Stirn und Gesicht.
    An die verschlossene Haustür klopfte der Wachposten von der
Scheune, durch den Schrei und das Klirren des Fensters alarmiert. Doch
Christian antwortete und öffnete nicht. Er löschte wieder das Licht. Im
Dunkeln trug er leise Emma die Treppe hinab in das Wohnzimmer, wusch
ihre und seine blutenden Wunden aus und wachte über ihren ohnmächtigen
Schlaf. Erloschen war sein eigenes Leid, ausgebrannt war seine
Verzweiflung, geendet selbst die Hoffnung auf Tod. Er lebte hinter
Gottes aufgehobener Hand auf schmalem Raum, und was ihm noch blieb,
Kraft des Körpers und Gefühl des Herzens, gab er aus nur noch für die
Schicksale anderer Menschen.

VII
    Der Mörder Fritz hatte in dieser Zeit, vom Frühjahr bis Juli,
in seiner neuen Heimat und in dem neuen Dienst vollkommen ruhig und
zufrieden, mit der ganzen Freude der Jugend am Dasein gelebt. Die
Arbeit gefiel ihm. Sein Herr war der Schultheiß eines Ortes, der
ungefähr zweitausend Einwohner hatte, und den zwei lange Straßenzüge
durchliefen, die auf einen kleinen Hauptplatz mündeten. Der Schultheiß
besaß nur eine kleinere Wirtschaft, dagegen eine Torfbrennerei, eine
Viertelstunde weit vom Ort in der Heide gelegen, die in einem Umkreis
von ungefähr zwanzig Meilen die fruchtbare Ebene der Felder unterbrach.
Zu seiner großen Freude hatte Fritz viel zu kutschieren, und die Pferde
waren ausschließlich seiner Pflege und Obhut anvertraut. Vier starke
Lastpferde für die Torffuhren standen im Stall und zwei Wagenpferde für
den Herrn, der viel über Land fuhr. So klein der Ort war, war es doch
eine neue Welt für Fritz. Straßen und Häuser waren hier, statt der Tag
und Nacht

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