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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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Lächeln unschuldiger Kindheit
hatte er auf dem schönen Gesicht, aber Fritz, ihr Kind, tauchte durch
dieses erste hindurch zum zweiten Male auf, ein von schwarzer Röte
überwalltes, ausgeweitetes, grinsendes Teufelsantlitz, ein großer,
fremder Männerleib, bedeckt von Blut und schwarzen Wunden. Fritz, der
Mörder, begegnete ihrem Herzen.
    Sie stürzte, ohne zu suchen, ohne im Dunkeln zu sehen, in den
Winkel, wo der Herr mit den anderen stand. Sie sank nieder, die Hacke
im Bogen von sich schleudernd; sie kniete und keuchte: »Schlagt mich
tot! Schlagt mich tot!« Sie schrie nicht, ihre Augen waren geschlossen,
wie von weither kam ihre Stimme, leise und flehend: »Ach, Herr, schlagt
mich tot.« Dann verstummte sie, fiel in sich zusammen, ließ sich ruhig
hinaus und in das Haus zurückführen, sank in der Küche in den Stuhl vor
dem großen Tisch nieder und schien, die Arme schützend um den Kopf
gelegt, in Schlaf zu versinken.
    Die anderen standen noch im Winkel der Scheune. Keiner begriff Emmas
Handlung und ihre Worte, aber der Anblick ihrer knienden Gestalt vor
dem Herrn hatte das Entsetzen und Grauen noch gesteigert
    Der Herr ergriff die fortgeworfene Hacke, und mit zarter,
fürsorglicher Hand schob er nach und nach den ganzen kleinen Hügel des
Bodenstrohes beiseite, und mit seinen Augen, unerblindet durch Schmerz
und Leid, geschärft immer mehr zu klarsten Blicken in die Dunkelheit,
mußte er die toten Reste seines Kindes sehen, einen zarten, blonden
Hauch von Haar noch an der rechten Schläfe des kleinen, völlig
ausgetrockneten Schädels und, zwischen Erde und Stroh hervorschimmernd,
das rot- und grünkarierte Kleidchen und kleine, schwarze Schuhe.
Raschelnd schlüpften braune Iltisse und schwarze Ratten aus dem kleinen
Grab hervor, rannten aufgescheucht durcheinander, neuen Unterschlupf
suchend.
    Als Christian Haar, Kleid und Schuhe erkannt hatte, trat er
zurück; die Hacke fiel aus seinen Händen; mit einer Stimme, die nicht
die seine war, und mit einer Ruhe, die von einer fremden, göttlichen
Macht über ihn gebreitet schien, sagte er: »Hier muß zugesperrt werden,
und Anton soll sofort zum Gendarmen.« Und er schob die Knechte an den
Schultern aus der Scheune, löste die Flügel des Tores von der Wand und
verschloß sie. Er setzte sich nieder auf die Stufen vor der Haustür,
mitten in die glühende Sonne. Es war derselbe Tag, an dem im
vergangenen Jahre das Kind verschwunden war. Jetzt war es gefunden.
Gottes Strafe, Gottes Gnade, Gottes verhülltes Angesicht, alles war
versunken. Das Böse war da, das Teuflische hatte sich gezeigt.
    In furchtbarer Verödung lagen Haus und Hof während der
nächsten Stunden da. Nichts schien mehr zu leben als der kleine, weiße
Schädel im Dunkel der verschlossenen Scheune und das Grauen, das die
mittägliche Luft und Sonnenglut erfüllte. Niemand rief und niemand kam
zum Essen. In den Kammern drückten sich die Mägde zusammen, ohne Frage,
stumm starrten sie einander in die bleichen, von Entsetzen verzogenen
Gesichter. Die Männer standen, hinter die Ställe gedrückt, beieinander,
spuckten aus und traten von einem Bein auf das andere. Alles schwieg.
Hitze, Schweiß und kalter Schrecken dunstete um sie. In der Küche,
allein, saß Emma, die Hände ineinandergefaltet; ihr geweiteter Blick
hing fern am Himmel, bewußtlos im Aufruhr ihrer Seele, ruhte sie
unbeweglich.
    Gegen fünf Uhr nachmittags kam zugleich mit der zum Melken
heimgetriebenen Herde die Polizei. Christian führte die beiden
Gendarmen noch zur Scheune, öffnete sie und zeigte stumm auf den
schmalen Gang neben der Wand der Garben, dann brach er zusammen. Zwei
Knechte brachten ihn bewußtlos ins Wohnzimmer.
    Die Gendarmen besichtigten die Scheune, den Winkel, in dem die
Leiche lag, ohne etwas anzurühren, dann nahmen sie die Personalien
aller im Hause befindlichen Personen auf; das Scheunentor ward
verschlossen, versiegelt und einer der Polizisten als Wache
aufgestellt, während der andere mit dem für das Gericht aufgesetzten
Protokoll davonritt. Es wurde noch angeordnet, daß niemand den Hof
verlassen dürfe, das Vieh dürfe nicht ausgetrieben werden am nächsten
Morgen, bevor nicht die Gerichtskommission eingetroffen sei und es
erlaubt habe. Gegen Abend kam ein zweiter Gendarm, um die Wache für die
Nacht zu verstärken. Die zweite schlaflose, angstgequälte Nacht senkte
sich auf alle nieder. Verhungert und müde kamen sie am nächsten Morgen
in

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