Das Verlorene Labyrinth
Alice schlug die Karte vorn im Buch auf. Von Montsegur zu den Sabarthès -Bergen war es nicht weit. War d er Schatz dort versteckt worden ?
Was verbindet Chartres mit Carcassonne?
In der Ferne hörte sie erstes Donnergrollen. Das Zimmer war jetzt in ein eigenartiges orangefarbenes Licht getaucht, das von den Straßenlampen draußen kam und von den tief hängenden Nachtwolken reflektiert wurde. Wind war aufgekommen, klapperte an den Fensterläden und wirbelte Papierabfälle über den Parkplatz.
Als Alice die Vorhänge zuzog, fielen die ersten schweren Regentropfen, klatschten wie schwarze Tintenflecke auf die Fensterbank. Sie wäre am liebsten sofort aufgebrochen. Aber es war schon spät, und sie wollte bei dem Gewitter nicht mit dem Auto unterwegs sein.
Sie vergewisserte sich ein letztes Mal, dass Tür und Fenster fest verschlossen waren, dann stellte sie sich den Wecker und legte sich völlig angezogen ins Bett, um auf den Morgen zu warten.
Zuerst war alles wie immer. Vertraut, friedlich. Sie schwebte in der weißen, schwerelosen Welt, klar und still. Dann kam ein Ruck, als hätte si c h die Falltür unter dem Galgen geöffnet, und sie fiel durch den offenen Himmel nach unten, auf die bewaldeten Berge zu, die ihr immer schneller entgegenkamen.
Sie wusste, wo sie war. Am Montsegur im Frühsommer.
Alice landete im Laufschritt, sobald ihre Füße den Boden berührten, stolperte einen steilen, holprigen Waldpfad entlang, zwischen zwei hohen Baumreihen hindurch. Die Bäume waren dicht und groß und ragten hoch über ihr auf. Sie griff nach Zweigen, um sich abzubremsen, doch ihre Hände glitten einfach hindurch, und kleine Blättchen blieben büschelweise an den Händen hängen, wie Haare aus einer Bürste, und färbten ihre Fingerspitzen grün.
Der Pfad unter ihren Füßen war abschüssig. Alice spürte das Knirschen von Steinen und Geröll, das die weiche Erde, das Moos und die Zweige von weiter oben am Berg verdrängt hatte.
Aber es gab kein einziges Geräusch. Kein Vogel sang, keine Stimme rief, nichts, nur ihr eigener hechelnder Atem.
Der Pfad schlängelte und wand sich, führte sie mal in die eine, mal in die andere Richtung, bis sie schließlich um die Biegung kam und die lautlose Feuerwand sah, die ihr den Weg versperrte. Sie hob die Hände vors Gesicht, um sich vor den lodernden, zischenden, orangeroten und gelben Flammen zu schützen, die in der Luft züngelten und wirbelten wie Schilfgras im Wasser eines Flusses.
Jetzt veränderte sich der Traum. Statt der Vielzahl von Gesichtern, die in den Flammen Gestalt annahmen, war es diesmal nur eines, eine junge Frau mit einem gütigen und zugleich auch energischen Gesichtsausdruck, die die Arme ausstreckte und Alice das Buch aus der Hand nahm.
Sie sang mit einer Stimme wie gesponnenes Silber.
»Bona nueit, bona nueit.«
Diesmal fassten keine kalten Finger nach ihren Knöcheln oder fesselten sie an die Erde. Das Feuer verlangte nicht mehr nach ihr. Dann schraubte sie sich in die Luft wie eine Rauchfahne, die dünnen, starken Arme der Frau umfingen sie, hielten sie fest. Sie war in Sicherheit.
»Braves amics, pica mieja-nueit.«
Alice lächelte, als sie zusammen immer höher und höher dem Licht entgegenstrebten und die Welt weit hinter sich ließen.
Kapitel 44
Carcassona
JULHET 1209
A laïs wurde früh vom Sägen und Hämmern unten im Hof geweckt und stand auf. Sie schaute aus dem Fenster auf die hölzernen Galerien und Wehrgänge, die an die Mauern des Chateau Comtal gebaut wurden.
Das beeindruckende Holzgerüst nahm rasch Gestalt an. Wie ein überdachter Laufsteg am Himmel, war es ein hervorragender Ausguck, von dem aus die Bogenschützen einen Pfeilhagel auf den Feind niederprasseln lassen konnten, sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass die Mauern der Cité selbst überwunden wurden.
Sie kleidete sich rasch an und lief nach unten in den Hof. Die Feuer in der Schmiede tosten. Allenthalben sangen Hammer und Amboss, weil Waffen geschärft und gerichtet wurden; Sappeure riefen einander kurze, bellende Anweisungen zu, während die Winden, Seile und Gegengewichte der pèireras, der Ballistas, bereitgemacht wurden.
Alaïs sah Guilhem vor dem Stall stehen. Ihr Herz zog sich zusammen. Nehmt mich wahr. Er drehte sich nicht um und sah auch nicht auf. Alaïs hob die Hand und wollte seinen Namen rufen, doch dann verließ sie der Mut, und sie ließ den Arm wieder sinken. Sie würde sich nicht selbst demütigen, indem sie um seine
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