Das Verlorene Labyrinth
nicht gesehen. Geht es dir besser?«
Sie neigte den Kopf. »Danke, Messire, ich fühle mich recht gut.« »Besser?«, fragte Guilhem verwirrt. »Habt Ihr Euch schlecht gefühlt? Ist etwas mit Euch?«
»Steht auf! «, schrie Pelletier, der jetzt wieder seinen Schwiegersohn ansah. »Ihr habt so viel Zeit, wie ich brauche, um die Treppe hinunterzugehen und den Hof zu überqueren, du Mas. Wenn Ihr bis dahin nicht im Großen Sa al seid, könnt Ihr was erleben! « Ohne ein weiteres Wort machte Pelletier auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Schlafgemach.
In der peinlichen Stille, die daraufhin entstand, war Alaïs vor lauter Verlegenheit wie festgewachsen, doch sie hätte nicht sagen können, ob sie sich für ihren Mann oder sich selbst schämte. Guilhem fuhr aus der Haut. »Was bildet der sich ein, hier hereinzuplatzen, als ob ich sein Eigentum wäre? Für wen hält er sich?« Mit einem wütenden Tritt beförderte er die Decke zu Boden und sprang aus dem Bett. »Die Pflicht ruft«, sagte er sarkastisch. »Es ziemt sich nicht, den großen Intendant Pelletier warten zu lassen.«
Alaïs sagte nichts, aus Angst, Guilhem noch mehr zu erzürnen. Sie hätte ihm gern erzählt, was am Fluss geschehen war, wenn auch nur, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, aber sie hatte ihrem Vater versprochen, mit niemandem darüber zu sprechen.
Guilhem war schon durchs Zimmer geeilt und kleidete sich mit dem Rücken zu ihr an. Seine Schultern waren angespannt, als er seinen Wappenrock überzog und den Gürtel umschnallte. »Vielleicht gibt es Neuigkeiten ...«, setzte sie an.
»Das ist keine Entschuldigung«, fauchte er. »Mir hat niemand Bescheid gesagt.«
»Ich ...« Alaïs verstummte. Was sollte sie auch sagen?
Sie hob seinen Mantel vom Bett und reichte ihn ihm. »Werdet Ihr lange fort sein?«, fragte sie leise.
»Woher soll ich das wissen? Ich weiß ja nicht einmal, warum ich überhaupt in den Rat gerufen werde«, sagte er noch immer wütend.
Unvermittelt schien sein Zorn zu verrauchen. Seine Schultern entspannten sich, und er drehte sich zu ihr um. Sein Blick war nicht mehr finster. »Verzeiht mir, Alaïs . Ihr könnt nichts für das Verhalten Eures Vaters.« Er strich ihr mit den Fingerspitzen über das Kinn. »Kommt. Helft mir bitte.«
Guilhem beugte sich vor, damit Alaïs leichter an den Verschluss des Mantels kam. Trotzdem musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um die runde Brosche aus Silber und Kupfer an seiner Schulter zu befestigen.
»Mercé, mon cor«, sagte er, als sie fertig war. »Also gut. Dann wollen wir sehen, worum es eigentlich geht. Wahrscheinlich nichts Wichtiges.«
»Als wir heute Morgen zurück in die Cité geritten sind, ist ein Bote eingetroffen«, sagte sie, ohne zu überlegen.
Sofort schalt Alaïs sich selbst. Jetzt würde er bestimmt fragen, wo sie so früh schon gewesen war, noch dazu mit ihrem Vater, aber er war damit beschäftigt, sein Schwert unter dem Bett hervorzuholen, und hatte gar nicht richtig hingehört.
Bei dem harten Metallgeräusch, als er die Klinge zurück in die Scheide schob, zuckte Alaïs zusammen. Dieses Geräusch symbolisierte mehr als alles andere seinen Aufbruch aus ihrer Welt in die Welt der Männer.
Als Guilhem sich umdrehte, wehte sein Mantel gegen das Holzbrett, das ein Stück über die Tischkante ragte. Es fiel herab und polterte auf den Steinboden.
»Ist nicht schlimm«, sagte Alaïs rasch, weil sie ihren Vater nicht noch mehr verärgern wollte, indem sie Guilhem noch länger aufhielt. »Ich lasse es sauber machen. Geht nur. Und kommt zurück, sobald Ihr könnt.«
Guilhem lächelte, und fort war er.
Als seine Schritte verklungen waren, wandte Alaïs sich wieder um und sah sich das Malheur an. Weiße Käseklumpen, feucht und glitschig, klebten in der Binsenmatte auf dem Boden. Mit einem Seufzer bückte sie sich, um das Brett aufzuheben.
Es stand hochkant, gegen den Holzrahmen gelehnt. Als sie es ergriff, berührten ihre Finger eine Unebenheit auf der Unterseite. Alaïs drehte es um und sah nach.
In die glänzende Oberfläche des dunklen Holzes war ein Labyrinth geschnitzt.
»Meravelhos«, murmelte sie. Wie schön.
Gebannt von den vollkommenen Linien, die in immer kleineren Kreisen verliefen, fuhr Alaïs mit den Fingern über das Muster.
Es war glatt, makellos, eine liebevolle Arbeit, mit großer Sorgfalt und Genauigkeit ausgeführt.
Irgendwo in ihrem Hinterkopf regte sich eine Erinnerung. Alaïs hielt das Brett hoch, sie war sich jetzt ganz
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