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Das verlorene Land

Das verlorene Land

Titel: Das verlorene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Birmingham
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mehr dehnen. Es kam ihm vor, als müsse er von nun an bis in alle Ewigkeit in diesem Raum mit den Toten und den Sterbenden verharren.
    Irgendetwas bewegte sich hinter ihm. Blitzschnell zog er seine Lupara aus dem Halfter.
    Ein lauter Knall ertönte, und der Schatten brach zusammen, noch bevor Miguel Zeit hatte, den Abzug zu betätigen. Ganz kurz sah er, wie der Kopf des Angreifers zerbarst und sich in einen Regen aus Blut und Knochensplittern verwandelte, bevor eine wohltuende Stille sich ausbreitete, die nur vom schrillen Klingeln in seinen Ohren und dem Heulen einer Frau irgendwo im Dunkeln gestört wurde. Der Mann, dessen Gegenwart er nur gespürt hatte, lag nun mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden neben der Tür.
    Hinter ihm stand Sofia mit einer M-16 in der Hand.
    »Papa«, sagte sie verlegen.

31
    Berlin
    Wie sie erwartet hatte, war der BMW ein älteres Modell, ein X5 aus dem Jahr 2002. Die »Bayerischen Motorenwerke« waren nicht pleitegegangen wie so viele andere Autohersteller, waren aber wesentlich verkleinert worden und hatten seit 2003 keine neuen Modelle mehr gebaut. Der X5, der ihr von der Berliner Zentrale zur Verfügung gestellt wurde, war eine ziemlich gute Weiterentwicklung der amerikanischen SUVs. Zwar ließ er sich ihrer Ansicht nach ein bisschen steif lenken, aber der Motor war stark und hinten lag eine Kiste mit der von ihr angeforderten Ausrüstung. Sie war versiegelt und als diplomatisches Gepäck deklariert worden, so dass keine Polizeistreife sie anhalten und in ihren Sachen herumwühlen durfte.
    Caitlin war müde von der langen Reise. Sie war im Morgengrauen in London abgeflogen, und nun war es fast Mitternacht. Die sechs Spuren der A-100 erstreckten sich vor ihr und führten am goldgelb beleuchteten Funkturm vorbei, der zur Linken aufragte. Eigentlich war es ein durchaus freundlicher Anblick nach dem grauen, deprimierenden London, das wie in George Orwells »1984« aussah, aber sie war viel zu müde, um ihn genießen zu können. Außerdem fühlte sie sich einsam, was eine ganz neue Erfahrung für sie war. Sie hatte versucht, Bret anzurufen, bevor sie losgeflogen war, aber der Wachposten im sicheren Haus, wo sie untergebracht waren, hatte ihr mitgeteilt, dass ihr Mann und ihre Tochter noch schliefen. Sie hatte
nicht darauf bestanden, sie zu wecken. Ihre Brüste waren schwer und schmerzten, weil sie ihr Kind schon so lange nicht mehr gestillt hatte, aber in dieser Hinsicht konnte sie nichts tun. Sie konnte die Milch ja nicht per Express nach England schicken. Und bald schon würden die Drüsen aufhören, sie zu produzieren. Sie spürte ein irrationales Bedauern darüber, als wäre dies das Schlimmste, das Baumer ihr angetan hatte. Sie rückte das extra für sie angefertigte Schulterhalfter zurecht, richtete die Lüftung anders aus, damit sie den Luftstrom nicht mehr direkt ins Gesicht bekam, und hoffte, dass ihre Müdigkeit bald verflog.
    Sie bereute, dass sie keine eigenen CDs mitgenommen hatte. Die deutsche Rock- und Popmusik machte ihr Kopfschmerzen. Trotzdem musste sie sich jetzt mit ihrer neuen Umgebung auseinandersetzen. Nachdem sie eine Weile am Radio herumgefummelt hatte, fand sie endlich einen lokalen Sender, der jede Viertelstunde Nachrichten brachte. Ihre deutschen Sprachkenntnisse waren ganz gut, sie verstand alles, aber ihr aktiver Wortschatz war etwas eingerostet. Nun übte sie, indem sie die Aussagen des Nachrichtensprechers wiederholte.
    »In New York halten die Kämpfe an, während das britische Sicherheitskabinett Krisengespräche mit dem amerikanischen Verteidigungsminister abhält. Die Nato-Minister sind in Brüssel zusammengekommen, und es wird erwartet, dass sie am späten Abend eine Erklärung abgeben werden, in der sie die staatlich unterstützte Piraterie verurteilen. Gleichzeitig fordern sie die Kipper-Administration auf, Zurückhaltung zu üben …«
    Caitlin schnaubte verächtlich.
    »Genug von diesem Scheiß«, sagte sie und probierte einige andere Sender aus, bis sie eine Radio-Talkshow gefunden hatte, in der über die anstehende Bundestagsdebatte über die Anerkennung der Scharia diskutiert werden sollte, die einige Kommunen für bestimmte zivilrechtliche
Auseinandersetzungen als bindend eingeführt hatten. Fünf Minuten lang hörte sie den Tiraden der Anrufer zu und kam auf diese Weise in den Genuss diverser Akzente und Mundarten. Die verschiedenen Stimmen passten zu dem Stadtteil, in den sie gerade fuhr. Neukölln war keine geschlossene Scharia-Gemeinde,

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