Das verlorene Land
kleine Gruppe verängstigter Frauen. Immer wieder schüttelte er den Kopf.
»O nein, nein!«, rief er hilflos.
»Adam«, rief Miguel. »Wer fehlt denn jetzt noch?«
»Sally, Sally Gray, Mr. Pieraro.« Der gequälte Unterton in seiner Stimme machte Miguel klar, dass Sally Gray nicht irgendjemand war, sondern ihm offenbar etwas bedeutete.
Das würde Sofia bestimmt nicht gefallen.
»Bring sie auf dem gleichen Weg raus, wie wir reingekommen sind«, befahl er. »Lauft schnell, haltet nicht an und schaut nicht zurück. Wir treffen uns dann auf der Lichtung. Geht jetzt! Geht! Ich werde deine Sally schon finden.«
»Hören Sie!«, rief die Frau, die offenbar Jenny hieß. »Ich glaube, sie war im Vorratsraum. Einer von diesen Männern hat sie vor fünfzehn Minuten mitgenommen.«
»Danke. Und jetzt geht endlich!«
Er macht eine heftige Geste, um sie nach draußen zu scheuchen, und hielt einen Moment inne, um nachzudenken. Irgendwo anders im Gebäude war der Kampf in vollem Gang, man hörte das wilde Stakkato des Gewehrfeuers. Maschinengewehre. Einzelschüsse. Männer und Frauen schrien vor Angst und Wut. Er prüfte die Ladung seiner Winchester. Er hatte noch genug Munition in Reserve. Bislang hatte er noch keinen einzigen Schuss daraus abgefeuert. Er bekreuzigte sich und bat um die Hilfe der Heiligen Jungfrau. Dann schluckte er seine Angst hinunter, die nicht unerheblich war, und betrat den Korridor, das Gewehr schussbereit. Er stieg über die zerfetzte Leiche des Mannes, den er getötet hatte, und eilte den Flur entlang. Er war nur spärlich erleuchtet, nur wenige Lichtstrahlen drangen durch die Lücken in den Bretterwänden. Auf halbem Weg erreichte er eine verschlossene Tür und überlegte nur eine halbe Sekunde lang, wie er sie am besten aufbekam, bevor er sie eintrat und dann zur Seite sprang, falls jemand auf ihn feuern würde. Nichts passierte, was schon beinahe eine Enttäuschung war. Er hatte gehofft, dass er nicht gezwungen würde, noch tiefer in
das Gebäude einzudringen. Ein weiterer Blick machte ihm klar, dass der Raum nicht mehr als eine Kammer war, worin sich alle möglichen Reinigungsutensilien befanden, Besen, Putzlappen, Eimer und so weiter.
Miguel ging in die Knie, als eine Gewehrsalve die Bretterwand vor ihm durchschlug und sie so weit zerfetzte, dass nun deutlich mehr Licht eindrang.
Seine Beine zitterten vom Adrenalinstoß, als er vorsichtig nach vorn trat, um durch das Loch in der Wand zu spähen. Dahinter erstreckte sich der Gastraum mit der Bar. Es herrschte ein totales Chaos, in einer Ecke brannte ein kleines Feuer, nachdem eine Öllampe zerschlagen oder zerschossen worden war und das Öl sich über den Fußboden ergossen hatte. Verschütteter Alkohol und herumliegende Betttücher hatten ebenfalls Feuer gefangen. Überall lagen Menschen herum, manche zuckten noch oder versuchten fortzukriechen. Aber er bemerkte auch fünf Road Agents, die noch immer aufrecht standen und ein gutes Ziel abgaben. Sie hockten an der Vorderfront und feuerten auf die Straße. Die Schüsse, die durch die Holzwand drangen, mussten von Aronsons Männern kommen.
Miguel schaute sich misstrauisch um.
Nirgendwo war etwas von einer Frau zu sehen, die Sally Gray sein konnte. Jenny hatte behauptet, sie sei in die Vorratskammer gebracht worden, aber einen solchen Raum hatte er vom Korridor aus nicht bemerkt. Von seinem Platz aus konnte er drei der Huren ausmachen, die an ihrem nachlässigen Kleidungsstil gut zu erkennen waren. Zwei von ihnen lagen tot auf dem Boden, die dritte feuerte mit einem Karabiner auf die Straße. Die Road Agents verfügten noch immer über eine derart große Feuerkraft, dass er sich ernsthaft Sorgen um Aronson und seine Leute machen musste. Hoffentlich hatten sie einen Unterschlupf gefunden, um sich in Sicherheit zu bringen.
Wie viele von ihnen lebten noch?
War es überhaupt sinnvoll, weiter nach dieser Sally Gray zu suchen?
Papa sollte doch längst dort rausgekommen sein, dachte Sofia. Sie hatte es aufgegeben, so zu tun, als wäre sie nicht da, und war einen Häuserblock vom Hy Top Club entfernt über die Straße gegangen. Überall um sie herum war Gewehrfeuer zu hören, aber sie kümmerte sich nicht darum. Das Adrenalin in ihren Adern hatte sie mehr aufgeputscht, als sie es jemals während einer Jagd im Wald erlebt hatte. Sie erreichte die Hinterseite der Bar.
»Nicht schießen, bitte!«
Das Mormonenmädchen, das vor Sofia zu Boden fiel, war etwa genauso alt wie sie selbst. Sie rannte
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