Das verlorene Land
sie nun wiederum die Huren behandelten. Man hatte ihnen nahegelegt, sich zu waschen und anständig anzuziehen. Vielleicht war das ja der Grund, warum sie so mürrisch reagierten, dachte Miguel amüsiert. Wenn sie erst mal ihre ledernen Miniröcke und ihre engen Tops ausgezogen hatten und in langen, weiten Kleidern steckten, war ihre Macht verflogen. Und die vielen Wunden und Bandagen, die sie nun hatten, taten ihr Übriges dazu. Miguel sah sie sich eine Weile genauer an. Im Augenblick wurden sie von Trudi Jessup bewacht, einer Frau, die sie in der letzten Nacht befreit hatten, die aber weder zu den Huren noch zu den Mormonen gehört hatte. Er hatte noch nicht länger mit ihr gesprochen, nur ihren Dank nach den Exekutionen entgegengenommen. Sie hatte die ganze Zeit mit den anderen Frauen verbracht, aber etwas war an ihr, das sie von allen unterschied.
Wahrscheinlich lag es einfach nur daran, dass sie nicht zu ihrer Glaubensgemeinschaft gehörte.
Nachdem er sie eine Weile beobachtet hatte, war ihm klar, dass die Huren keine Gelegenheit bekommen würden, Ärger zu machen, und er entspannte sich ein wenig. Es ist
nicht klug, die Feinde mit ins eigene Lager zu nehmen, dachte er. Er nahm sich ein paar Äpfel aus einer Plastikschale, ein paar Kekse und etwas Käse und ging zu der Gruppe der Anführer, die gerade über ihre Zukunftspläne diskutierten. Er hatte immer gedacht, Mormonen seien Frauen gegenüber rückschrittlich eingestellt – ungefähr so altmodisch wie traditionelle Katholiken -, aber bei denen hier schienen Frauen und Männer gleichrangig zu sein.
»Kommen Sie doch zu uns!«, sagte Aronson, als er merkte, dass Miguel zu ihnen herüberschaute.
Er kannte die Frauen alle, aber Namen hatte er sich noch nie sehr gut merken können, selbst wenn er es sich vorgenommen hatte, und so wusste er nicht, wer wer war. Jenny, die Verlobte von Willem D’Age, konnte er ohne Probleme identifizieren. Und Aronsons Frau Maive erkannte er natürlich auch. Sie war sehr nett zu Sofia gewesen und die Einzige unter den Frauen, die Sofia nicht wegen ihres Benehmens in der Nacht der Rettungsaktion verurteilte. Allerdings hatte auch Tori, die Verlobte von Ben Randall, sich bei Sofia dafür bedankt, dass sie die Frau erschossen hatte, die versucht hatte, ihn zu töten.
Die anderen kannte er nicht, bis auf Sally Gray, die noch zu jung war, um an dieser Besprechung teilzunehmen, weshalb er sich dazu entschloss, sie einfach alle als »Madam« anzusprechen.
Eine merkwürdige Ruhe lag über dieser Gruppe, man unterhielt sich gedämpft wie in einer Kirche. Zwar flüsterten sie nicht, aber niemand hob die Stimme oder äußerte seine Erleichterung, obwohl sie gerade dem Tode entronnen waren. Miguel vermutete, dass die Rettung noch nicht lange genug vorüber war, um Erleichterung zu verspüren. Außerdem hatten sie selbst Opfer zu beklagen, waren mit heftigen Gewaltausbrüchen konfrontiert worden und hatten üble Misshandlungen erduldet. Das alles hatte auch seelische Wunden aufgerissen, die nur langsam heilten.
»Miguel«, sagte Aronson. »Meine Frau ist Ihrer Meinung, dass wir möglichst schnell von hier fortgehen sollten.« Maive legte überraschend ihre kühle Hand auf seinen Unterarm und drückte ihn.
Sie schaute zu den gefangenen Frauen hinüber, und Miguel war sich sicher, dass sie ihnen gegenüber keine positiven Gefühle hegte, das sah man ihr an. Aber sie riss sich zusammen, und ihr Gesichtsausdruck wurde milder.
»Es wäre gut, wenn wir die Frauen von hier fortbrächten«, sagte sie. »Wir haben genug Vorräte von unserer Rast in Leona. Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden.«
»Das ist wahrscheinlich das Beste«, stimmte Miguel zu. »Ich weiß nicht, ob es hier viel zu holen gibt. Das Stadtzentrum ist abgebrannt, und der Rest wurde schon geplündert.«
»Das waren die Road Agents«, sagte Jenny mit deutlich mehr Bitterkeit in der Stimme als Maive. »Einer von ihnen hat mir erzählt, dass sie die Stadt schon seit sechs Monaten als Stützpunkt benutzten. Einen Großteil des Zentrums haben sie einfach nur aus Spaß zerstört.«
Sie schien sehr erschüttert bei dem Gedanken daran, dass jemand so etwas tun konnte, als wäre es genauso schlimm, wie entführt und misshandelt zu werden.
»Dann sollten wir uns so schnell wie möglich auf den Weg machen«, sagte Miguel. »Wo wollen wir als Nächstes unser Lager aufschlagen?«
»Palestine«, erwiderte Aronson.
33
New York
Nein, dachte Milosz, man kommt nicht an
Weitere Kostenlose Bücher