Das verlorene Land
schwarze Haare. So wie ich.«
»Und Mama«, sagte Sofia mit dünner Stimme.
Er überlegte, ob er sie zu den anderen zurückschicken sollte, die am Eingang des Ortes warteten. Aber er hatte ein ungutes Gefühl und wollte seine Tochter lieber im Auge behalten.
Ein mechanisches Klicken war zu hören, und er griff sofort nach der Winchester, aber es war nur Adam mit seiner Kamera. Nach den Ereignissen in Crockett hatte Miguel den Jungen unter seine Fittiche genommen, und er hatte beobachtet, dass Sofia sich in seiner Gesellschaft etwas entspannte, auch wenn er sich ganz offensichtlich mehr für die arme Sally Gray interessierte. Adam schien Sofia gegenüber jetzt vorsichtig zu sein, nach dem, was sie sich in Crockett geleistet hatte, aber Miguel bildete sich ein, dass er sie auch ein wenig bewunderte.
Er schüttelte den Kopf. Selbst jetzt, da sie ums nackte Überleben kämpften, schien es so, als ließen sich gewisse emotionale Verwicklungen im Telenovela-Stil unter den Teenagern nicht vermeiden. Adams Familie war von der Energiewelle vernichtet worden, und er war diesem Schicksal nur entronnen, weil er mit der Schule einen Ausflug nach Edmonton unternommen hatte, der Partnerstadt seines Heimatortes Nashville. Miguel war von dem Jungen beeindruckt gewesen, als es darum gegangen war, die Frauen zu befreien, nicht nur, weil er sich im Kampf tapfer
verhalten hatte, sondern vor allem deshalb, weil er so mutig gewesen war, vorher über seine Ängste zu sprechen. Miguel hatte die Erfahrung gemacht, dass die meisten Männer nicht gern zugaben, dass sie es abstoßend fanden, Gewalt gegen einen anderen anzuwenden. Dabei war gerade das normal. Er hatte mal einen Zirkusboxer sagen hören, dass für einen normalen Menschen die Angst vor dem Zuschlagen größer war als die vor dem Geschlagenwerden. Für die meisten war dies ein Geheimnis, das sie schamhaft hüteten. Adam aber hatte sich direkt dazu bekannt und hatte sich damit als mutiger gezeigt als viele erwachsene Männer. Außerdem hatte er sich als zuverlässig erwiesen, als es darum ging, inmitten des Gefechts die Frauen aus dem Gefängnis der Road Agents in Sicherheit zu bringen.
Und genau deshalb war Miguel jetzt wütend auf ihn.
»Was machst du denn da, Adam?«, fragte er mit gesenkter Stimme, während der Junge die grässlich anzusehenden Leichen fotografierte, als wären es Attraktionen auf einem Ferienausflug. Aber in dem Moment, als Adam den Fotoapparat herunternahm, verstand Miguel, um was es ihm ging. Sein Gesicht war weiß wie ein Laken, seine Kiefermuskeln so angespannt, sein Gesicht derart verzerrt, dass es aussah, als hätte er auf etwas unglaublich Bitteres gebissen.
»Beweise sammeln«, erwiderte er knapp.
»Okay«, lenkte Miguel ein.
Sie erreichten die ausgebrannten Überreste eines Cafés. Auf einem verkohlten Schild über rußigen Ziegelmauern, das einmal gelb gewesen sein musste, war zu lesen: »Old … gnolia«. Miguel fragte sich, wieso ausgerechnet dieses Café ausgebrannt war, wo doch die meisten anderen Gebäude im Zentrum der Stadt nichts abbekommen hatten. War am Tag des Effekts der Gaskocher an gewesen? Aber warum hatten die Flammen nicht auf die anderen Häuser übergegriffen?
Hatte es geregnet? Er schob diese müßigen Gedanken beiseite. In jeder Stadt, durch die sie gekommen waren, hatten sie das gleiche Bild vorgefunden. Einige Gegenden waren zerstört worden, andere sahen aus, als wären sie fluchtartig verlassen worden. Moderne Geisterstädte.
Adams Kamera klickte weiter.
Miguel erinnerten die breiten, staubigen Straßen von Palestine an die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, an die Zeit der großen Depression. Die zerbeulten, sonnengebleichten Wracks der modernen Autos zerstörten diese Illusion, aber die gesamte Stadt sah hoffnungslos und verlassen aus.
Bis auf die Leichen der gelynchten Siedler. Sie verliehen dem Ort eine düstere und schaurige Präsenz.
Sogar in den dreißiger Jahren, als der Ku Klux Klan im Süden sein Unwesen trieb, hatte es derartige Grausamkeiten nicht gegeben. Nicht eine einzelne Leiche hing hier an einem Laternenpfahl, sondern zwei Dutzend davon. Als Miguel sich auf der Schiffsreise von Australien nach Texas gelangweilt hatte, war er zu den Vorträgen über amerikanische Geschichte gegangen, die an Bord der USS Wasp gehalten wurden. Dort hatte er erfahren, dass die Lynchjustiz zum Ziel hatte, andere Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Der Terror sollte Unterwerfung zur Folge haben. Dies
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